Krimi-Hörspiele:
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"Wenn Engel brennen"
Ein genialer Lauschangriff
„Wenn Engel brennen“ ist ein dreiteiliges Originalhörspiel aus dem Jahr 2021 nach einer Vorlage der amerikanischen Autorin Tawni O´Dell, die 2019 auf Deutsch als Buch erschien. Der SWR ordnet das Hörspiel in die Gruppe der Feminist Gangsta, in der schon eine Reihe von neuen Hörspielen erschienen sind.
Inhalt
In einer vereinsamten Kohleregion in Pennsylvania/USA ist die gut 40-Jährige Dove Carnahan als Chief für die örtliche Polizeiarbeit verantwortlich. Sie kümmert sich mit ihrem 5-Mann-Team um Schlägereien, kleine Diebstähle und die öffentliche Ordnung. Keine Herausforderung. Nun steht Carnahan vor einer glühenden Erdspalte, in die ein Mädchen geworfen wurde. Der Anblick der Leiche ist grauenhaft. Es handelt sich um Camio Truly, eine Teenagerin, die wegwollte aus diesem vereinsamten Ort. Wer tut so etwas? Sie stammt aus einer typischen Redneck – Sippschaft, die es sich in der „Stütze“ bequem gemacht hat. Aber ein Mord?
Welche Rolle spielen ihr Freund und seine Clique? Alle stammen aus eher guten Elternhäusern. Konsequent und geduldig ermittelt Chief Carnahan. Gestört wird sie, als nach 30 Jahren Haft der verurteilte Mörder ihrer Mutter auftaucht und sie des Mordes und der Falschaussage bezichtigt.
Die Bearbeitung
Der Bearbeitung und Regie ist es gelungen, Schwächen des Buches zu vermeiden und stattdessen das spannende Sittenbild einer verarmten Gegend in den USA zu zeichnen. Ich habe das Buch nach dem Hörspiel gelesen, weil mich die Sprache des Hörspiels beeindruckt hat:
„Da draußen ist ein Typ, der Sie unbedingt sprechen will.“ „Hat das mit unserem Mädchen zu tun?“ „Nein. Er will seinen Namen nicht nennen, aber er sagt, er hat ihre Mutter getötet.“ Er lässt die Schwere dieser Aussage wirken. Bestimmt erwartet er eine Reaktion von mir, aber von mir kommt nichts. „Alles in Ordnung, Chief? Glauben Sie, der Witzbold meint das ernst? Sollen wir mal nach ihrer Mutter sehen?“ „Meine Mutter wurde ermordet, als ich fünfzehn war.“
Ausschmückungen und Längen der Vorlage werden vermieden, die Realität des knüppelharten Daseins wird nüchtern, lakonisch und ernst, grausam und witzig ausgebreitet. Dennoch ist es ein klassischer Whodunit, denn die möglichen Täter sind überschaubar. Chief Carnahan ermittelt geduldig, wohl wissend, dass der erste Schein trügen kann. Der Hörer fühlt sich mitten im Geschehen, wenn Carnahan eine junge Mutter befragt, während das Baby permanent schreit und der Hörer wünscht, es möge endlich aufhören. Eine ideale Kombination aus Dialogen, Musik und Geräuschen. Kompliment an den Regisseur Mark Ginzler.
Die Schicksale
Dieser Country Noir spielt in einer Gegend, in der es nicht lebenswert ist, weil nie endende Kohlebrände sie unwirtlich gemacht haben. Aber dies schweißt nicht zusammen.
Chief Carnahan und ihre Schwester haben eine harte Kindheit hinter sich, einen tristen Alltag und keine Perspektive.
Die Trulys sind „Sozialhilfeadel“. In ihrer Sippe gibt es Kriminalität, Alkohol und Drogen, jede Menge ungewollter Kinder und… und. Es gibt die harte, bestimmende Großmutter, aber auch den jungen ehrgeizigen Engel, der in einer besseren Welt leben möchte. Träume welken und blühen.
Carnahan dringt tief in die einzelnen Geschichten ein und entdeckt eine unbändige Kraft zum Leben und Überleben. Diese Widerstandsfähigkeit, wie sie Brecht auch in dem Lied von der Hanna Cash besingt, hilft den Menschen zu leben, auch wenn die Bedingungen kaum auszuhalten sind.
Feminist Gangsta
Weibliche Ermittlerinnen sind nicht neu, aber doch rar, zumal im Umfeld des eher harten Krimis. Die Stärken von Chief Carnahan werden besonders bei den Befragungen der Truly-Frauen deutlich. Sie ist zugewandt, aber auch entschlossen. Eine Figur, von der man gerne mehr hören würde.
Fazit
Gelegentlich gefriert einem das Blut in den Adern, manchmal lacht man laut. Das Hörspiel ist ein wunderschöner Lauschangriff, der nie langweilig wird.
Couch-Wertung: 95°
In der ARD-Mediathek oder direkt beim SWR: www.swr.de/swr2/hoerspiel/wenn-engel-brennen-1-3-swr2-krimi-2022-03-26-100.html
"Nur die Tiere"
Ein Hörspiel in 5 Teilen nach dem Roman von Colin Niel
Niel veröffentlichte seinen Roman Noir 2017 auf Französisch. Deutsch ist er Mitte 2021 erschienen. Der große Erfolg führte schon 2019 zu einer Verfilmung unter dem Titel „Die Verschwundene“.
Ungewöhnlich ist die Erzählweise: Die Story wird nicht linear erzählt, sondern jeweils neu aus der Sicht von 5 Personen. Dies schreit geradezu nach einer Bearbeitung im Hörspiel, die der Deutschlandfunk seit März 2022 auch sendet.
Inhalt
Auf den Höhen des französischen Zentralmassivs verschwindet, im tiefsten Winter, die wohlhabende Évelyne Ducat spurlos. Ist sie auf einer ihrer einsamen Wanderungen in eine Schlucht gestürzt? Die schwierige Suche in den Schluchten und Karsthöhlen bleibt erfolglos. Oder liegt ein Mord an dieser leicht überheblichen, ungeliebten Neureichen vor? Gesucht wird auch beim Schafzüchter Joseph, dessen Hof in unmittelbarer Nähe des verlassenen PKWs steht. Verdächtig ist auch die junge, hübsche Geliebte der Évelyne, die von ihr schnöde sitzen gelassen wurde. Die lokale Polizei ermittelt akribisch, stößt aber immer wieder auf Mauern des Schweigens bei den verschlossenen Einwohnern.
Alice, eine junge, offene Sozialarbeiterin, die viel rumkommt, kennt diesen Menschentypus. Kann sie helfen? Sie war lange Zeit die Geliebte des Schafzüchters Joseph und gerät selbst in Verdacht, nachdem ihr eigener Mann verschwindet. Und dann gibt es noch den Telefonbetrüger von der Elfenbeinküste.
Der Hörer muss sich gedulden. Erst gegen Ende zeichnen sich die tatsächlichen Geschehnisse ab.
Die Tiere
Anders als der Titel erwarten lässt, spielen Tiere keine große Rolle, auch wenn man sie immer wieder deutlich hört. Die Tierhaltung geschieht nicht aus Liebe zum Tier, sondern zum Gelderwerb, der in Zeiten von EU-Bürokratie zunehmend schwieriger wird. Tiere brauchen Pflege, Zeit und ein wenig Liebe. Das Kontingent an Liebe scheint erschöpft, denn es fehlt den Menschen.
Die Menschen
Das Hörspiel gibt 5 Menschen Raum, ihre Geschichte zu erzählen. Und so wie jeder seinen eigenen hörenswerten Charakter hat, ist auch die Wahrnehmung der Realität eine andere. Wir hören sozusagen 5 Variationen derselben Geschichte, diese handeln alle auch von Träumen, Hoffnungen, Entbehrungen und Enttäuschungen. Die Sprecher machen einen tollen Job und malen ein lebensechtes Bild der Personen. Mir persönlich ist lediglich die Alice etwas zu flapsig, manche Stimme klingt eher norddeutsch. Französisches Flair kommt nicht auf. Das Hörspiel besteht aber nicht nur aus Monologen, denn es spielen viele Menschen mit, die aus einer Todesgeschichte ein Sittenbild machen.
Die Gegend
Die Handlung spielt in den Causses, einer kargen Hochebene im französischen Zentralmassiv. unwirtlich und unerbittlich. Das Leben dort oben ist hart, zumal im Winter. Leben ist nur durch Zusammenhalten möglich, dennoch sind sich die Menschen fremd.
Welch Gegensatz zur Elfenbeinküste, der Heimat des Telefonbetrügers.
Das Hörspiel
Der Ansatz, eine Geschichte aus 5 Perspektiven zu erzählen, ist einfallsreich und extrem spannend, da der/die Hörer/in immer wieder Neues und Anderes erfährt. Bei manchen Monologen ist es denn doch des Guten zu viel und nicht jede Person wirkt überzeugend. Aber dies ist eher dem Autor anzulasten. Die Regie vermeidet geschickt den Kitsch eines Regionalkrimis und stellt die Menschen und ihre Schicksale in den Vordergrund. Ein Intro macht den Hörer mit der Hauptperson vertraut. Den folgenden Rückblick könnte man sich sparen. Wer die Episoden zuvor nicht parat hat, findet keine Hilfe. Es folgt dann eine Mischung aus Monologen und Spielszenen.
Ich kenne kein Hörspiel, dass eine Geschichte von Enttäuschung und Einsamkeit so spannend und unterhaltsam darstellt.
Fazit
Trotz des großen Erfolgs hat die literarische Vorlage einige Schwächen. Dem Hörspiel ist es gelungen, die Leitmotive „hörenswert“ zu machen. Es lohnt sich alle 5 Episoden zu hören, frei nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel.
Couch-Wertung: 80°
Nicht ganz einfach in der ARD Mediathek, da die Suchfunktion nicht hilft: www.ardaudiothek.de/episode/kriminalhoerspiel-deutschlandfunk-kultur/nur-die-tiere-1-5-alice-krimi-raetselhafter-fall-im-zentralmassiv/deutschlandfunk-kultur/10358291/
"Krimi-Hörspiele: Mediatheken / Tipps 10" von Malte Stamer, 05.2022
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Fotos: istock.com / tolgart
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