Oliver Bottini
Deutschland 2006, nicht nur Sommermärchen?
06.2016 Zur Zeit findet in Frankreich die Fußball-Europameisterschaft statt. Wie alle gastgebenden Länder bei solchen Mega-Events möchte sich auch die Grande Nation als weltoffenes, lebensfrohes und konfliktfreies Land präsentieren. Andauernde und akute Probleme des Landes werden für diesen Zeitraum einfach aus den Schlagzeilen verbannt. Werfen wir einen Blick zurück in das Jahr 2006, als in Deutschland die Fußball-WM ausgetragen wurde. Bilder von fröhlich feiernden Menschen beim Public-Viewing dominieren die Erinnerung es war das Jahr des sogenannten Sommermärchens. Ein gänzlich anderes Bild dieser Zeit entsteht bei der Lektüre von Oliver Bottinis Im weißen Kreis, dem sechsten Roman aus der Louise-Boni-Reihe. Krimi-Couch-Rezensent Jürgen Priester unterhielt sich mit Oliver Bottini über diesen Roman und über sein bisheriges Schaffen.
Krimi-Couch: Aus deiner Biographie ist zu entnehmen, dass du seit 1995 freiberuflich als Autor und Lektor tätig bist. Das heißt, du hast schon während deines Studiums mit dem Schreiben angefangen. Dein erster Kriminalroman Mord im Zeichen des Zen erschien 2004. Wie bist du zur Kriminalliteratur gekommen? Was hat dich an dem Genre gereizt
Oliver Bottini: Ich habe mit 14 Jahren mit dem Schreiben angefangen und dann jahrzehntelang für die Schublade produziert, und zwar alle nur erdenklichen Texte und Genres. 2002 ist mein großes Sachbuch über Zen-Buddhismus erschienen, und in dieser Zeit habe ich mit einer befreundeten Lektorin darüber gesprochen, dass es doch interessant wäre, Zen-Buddhismus und Verbrechen literarisch zu verbinden. Ich hatte spontan Lust, es zu versuchen, und ziemlich schnell eine konkrete Vorstellung, wie ein Krimi beschaffen sein muss, damit mir das Schreiben Spaß macht. Das Ergebnis war dann eben Mord im Zeichen des Zen.
Krimi-Couch: Welche Autoren hast du gelesen? Haben sie dich bei deinem eigenen Schaffen beeinflusst
Oliver Bottini: Beeinflusst haben mich in meiner ganzen Haltung zu Literatur und Kriminalroman sicherlich meine zeitweiligen Säulenheiligen Don Delillo, Peter Temple, Don Winslow, aber auch Camus, Hemingwayund Kerouac, die meine späte Jugend stark geprägt haben. Dazu einzelne Texte wie die Tragödien von Jean Anouilh oder die der »alten« Griechen. Die beiden für mich wunderbarsten (Erwachsenen-) Bücher aller Zeiten hat aber Christoph Ransmayr geschrieben: Die letzte Welt und Die Schrecken des Eises und der Finsternis.
Krimi-Couch: Deine Serienfigur Louise Boni ist das weibliche Äquivalent eines »hardboiled detective«. Was hat dich bewogen, diese in der Regel mit Männern besetzte Rolle mit einer Frau auszugestalten?
Oliver Bottini: Ich finde Bonì gar nicht so hardboiled. Im Gegenteil, sie ist ziemlich versehrt. Aber sie kämpft hardboiled, gegen und für andere wie gegen und für sich selbst. Mir schien damals die Kriminalliteratur überschwemmt mit männlichen Hauptfiguren, das fing an, mich zu langweilen. So kam es zu Louise Bonì.
Krimi-Couch: Louise Boni hat ein Alkoholproblem. Alkoholgenuss, auch übermäßiger, ist in der Kriminalliteratur eine Männerdomäne. Trinkfreudige Helden wie John Rebus (Ian Rankin) oder Harry Hole (Jo Nesbø) erfreuen sich großer Beliebtheit. Eine alkoholkranke Serienheldin scheint mir indes problematisch. War das nicht ein Wagnis?
Oliver Bottini: Es ist nur ein Abbild der Realität: Auch Frauen können alkoholkrank sein. Nur ist es noch immer weitgehend tabuisiert, zumal 2002. Von einem »Wagnis« sollte man sich als Schriftsteller aber nicht abhalten lassen. Man muss das schreiben, was der eigenen Vision von diesem Beruf entspricht, sonst hat es ja keinen Sinn und macht keinen Spaß. Kraftvolle Literatur entsteht ja nicht dann, wenn man das eine oder andere lieber bleiben lässt, weil es ein Wagnis sein könnte. Man muss eben versuchen, es plausibel und nachvollziehbar zu gestalten; aber das gilt ja für männliche wie für weibliche Hauptfiguren. Im Übrigen hat Bonì ja am Ende von Mord im Zeichen des Zen aufgehört zu trinken und bis jetzt auch keinen Rückfall gehabt. Das sollen ihr die männlichen Kollegen mal nachmachen. ;-)
Krimi-Couch: Da gebe ich dir recht. Krimi-Männer machen ja gerne immer weiter und nach dem fünfzigsten abendlichen Absturz und dem folgenden morgendlichen Kater ist das nur noch öde. Ich hoffe, Louise hält das auch weiterhin durch. In Mord im Zeichen des Zen stellt sich Louise kurz selbst vor:
»Ich bin Kriminalhauptkommissarin, Dezernat Kapitalverbrechen, seit zwanzig Jahren Polizistin. Ich lese am liebsten Clavell, Mankell und Pilcher, mag Beethoven, Pink Floyd und Wham, und ich komme nicht von Barclay James Harvest los, auch wenn ich mich dafür schäme. Ich bin geschieden, zweiundvierzig und habe zum Glück leider keine Kinder&Und ich bin dick geworden.« (S. 196)
...und (ich) habe zum Glück leider keine Kinder... – dieser kurze Satz verdeutlicht u.a. die Ambivalenz dieser Figur. Ich führe das auch auf Louise zweiblütige Herkunft (Vater – Franzose, Mutter – Deutsche) zurück. Liege ich da richtig? Oder gibt es andere Gründe?
Oliver Bottini: Bonìs Ambivalenz oder innere Zerrissenheit hat aus meiner Sicht nichts mit ihrer bi-kulturellen Herkunft zu tun. Grundsätzlich sieht sie die als Gewinn, fühlte sich mit dem Deutschen so wohl wie mit dem Französischen. Die Zerrissenheit kommt aus ihrer Familiengeschichte, dem frühen Unfalltod des Bruders, dem Trennungskrieg der Eltern, aber auch ihrer krachend gescheiterten Ehe, den Ereignissen im Dienst, die sie sich nicht effektiv genug »vom Leib« halten kann.
Krimi-Couch: In 2015 und 2016 wurden in der ARD die Verfilmungen der Romane Mord im Zeichen des Zen und Jäger in der Nacht gezeigt. Am meisten hat mich die fantastische Melika Foroutan, die deutsch-iranischer Herkunft (Zufall?) ist, als Louise Boni begeistert. Die Schauspielerin entsprach ziemlich genau der Vorstellung, die ich mir beim Lesen der Romane von Louise Boni gemacht hatte. Wie war das für dich als Schöpfer dieser Figur?
Oliver Bottini: Melika Foroutan ist eine großartige »Verkörperung« von Bonì und passt in jeder Hinsicht sehr gut zur Figur. Äußerlich habe ich mir Bonì naturgemäß anders vorgestellt, weil ich Foroutan vorher nicht kannte, aber ich hätte mir keine bessere Bonì fürs Fernsehen wünschen können. Sie hat sich ihr stark anverwandelt und sie unglaublich gut gespielt. Ob ihre deutsch-iranische Herkunft beim Casting eine Rolle spielte, müsstest du die Produzentin fragen, das weiß ich nicht. Mir gefällt es auf jeden Fall, weil es zum einen unserer Zeit entspricht, in der ja viele Menschen mit zwei Kulturen und zwei Sprachen aufwachsen, und weil ich zum anderen Menschen sehr interessant finde, die neben dem Deutschen eine weitere Kultur in sich tragen.
Krimi-Couch: Wie fandest du die Verfilmungen allgemein?
Oliver Bottini: Mir haben sie gut gefallen. Beide waren sehr ambitioniert und durchaus anspruchsvoll, was dem deutschen TV-Einerlei nur gut tun konnte. Ich fand auch, dass die Art beider Filme den Romanen entspricht – es wird nicht alles auserzählt, die Dialoge und Szenen sind stark verdichtet, der Zuschauer / Leser muss mitdenken, und die Filme sind ganz auf Bonì zugeschnitten. Solche Adaptionen sind für den Romanautor natürlich wunderbar. Im ersten Film (Mord im Zeichen des Zen) kam die Krimihandlung vielleicht nicht so zum Tragen bzw. war nicht so ganz verständlich, dafür stand Bonì noch stärker im Vordergrund, und die Bilder waren meisterlich. Der zweite Film hat als Krimi besser funktioniert. Aber wie gesagt: Ich finde beide Verfilmungen super.
Krimi-Couch: Kannst du als Autor in irgendeiner Form Einfluss auf die Verfilmungen nehmen?
Oliver Bottini: Ich habe die Drehbücher gelesen und beim ersten Film auch ausführlich kommentiert, und manches ist dann auch noch eingeflossen. Aber meine Mitarbeit war von Anfang an nicht als Bedingung in den Vertrag aufgenommen worden, entsprechend war ich nicht in die eigentlichen Arbeitsprozesse involviert.
Krimi-Couch: Sind weitere Verfilmungen bei der ARD geplant? Dein letzter Boni-Roman Im weißen Kreis ist doch für eine Verfilmung geradezu prädestiniert.
Oliver Bottini: Leider hat die ARD-Produktionsfirma Degeto kürzlich entschieden, die Reihe nicht fortzusetzen. 3,5 und 3,9 Millionen Zuschauer sind wohl zu wenig für Donnerstagabend Prime Time, wo eigentlich ja nur Mainstream läuft. Und Mainstream sind die beiden Filme wie auch die Romane nun mal nicht, insofern war der Sendeplatz nicht ideal. Wenn Bonì in Konkurrenz zum »Bergdoktor« treten muss – meine Güte, was soll man dann sagen? Schade ist es natürlich schon, ich hätte Melika Foroutan gern noch öfter als Bonì gesehen. Aber man muss ja auch sagen: Zwei meiner Romane sind verfilmt worden, das ist wunderbar und freut mich nach wie vor kolossal. Damit hätte ich, als ich angefangen habe, niemals gerechnet.
Krimi-Couch: Zwischen den Boni-Romanen Das verborgene Netz und Im weißen Kreis liegen fünf Jahre. Das ist riskant. Serien-Fans bevorzugen ja steten Nachschub, mindestens einmal pro Jahr. Brauchtest du – ich nenne das mal – eine Boni-Pause?
Oliver Bottini: Nein, keine Pause. Ich habe schon nach dem vierten Bonì-Roman gemerkt, dass ich mich mal wieder einer neuen Herausforderung stellen möchte, komplexer schreiben möchte, sprich mit mehreren Perspektiven, unterschiedlichen Zeitebenen, »größeren« Themen. Nach dem fünften Roman war mir klar, dass es nun Zeit dafür ist. So sind Der kalte Traum und Ein paar Tage Licht entstanden. Die Frage, ob es ein Risiko sein könnte, mit Bonì Pause zu machen, habe ich mir nicht gestellt. Ich will und muss das tun, was für mich stimmig ist, nicht das, wovon ich glaube, dass ein Leser (welcher?) es haben will. Und weil mir diese beiden ambitionierteren Romane viel Spaß gemacht haben, werde ich im Wechsel weitermachen.
Krimi-Couch: In der Boni-Pause hast du zwei Einzelromane geschrieben. Der kalte Traum blickt zurück auf den Jugoslawien-Krieg, ein schwer durchschaubares Thema. In Ein paar Tage Licht geht es um deutsche Waffenexporte im Allgemeinen, speziell nach Algerien. Bei solch komplexen Themen ist die Recherche sicher sehr intensiv. Kannst du uns dazu etwas erläutern?
Oliver Bottini: Ja, die Recherche hat entsprechend lange gedauert, jeweils rund ein halbes Jahr, bevor überhaupt daran zu denken war, mit einem Konzept anzufangen. Für Der kalte Traum war ich unter anderem in Zagreb, für Ein paar Tage Licht in Algier. Dann habe ich natürlich viel über die Themen und Länder gelesen, mich mit Menschen von dort getroffen, aber auch mit Behördenmitarbeitern, viel telefoniert etc. Ganz normale Recherche eben.
Krimi-Couch: Viel Recherche steckt sicher auch in Im weißen Kreis, dem letzten Boni-Roman. Er handelt von den Seilschaften alter und neuer Nazis, oft im gutbürgerlichen Gewand, spielt 2006, kurz vor der Fußball-WM. Deutschland – ein Sommermärchen?
Oliver Bottini: …und zugleich ein Sommeralbtraum, zumindest im Roman. Aber auch in der Realität – im April 2006 hat der NSU ja zwei weitere Morde begangen. »Märchen« ist aber natürlich ein guter Begriff – zum einen was die Aufarbeitung der NSU-Morde betrifft, bei der offensichtlich mehr Märchen verbreitet werden als Wahrheiten, zum anderen die geplatzte Illusion vieler Deutscher, mich eingerechnet, hierzulande hätte rechtsextremes Gedankengut als Massenbewegung keine Chance mehr.
Krimi-Couch: Erschreckend wie immer ist die Rolle der übergeordneten Ermittlungsbehörden (LKA, BKA) und der Geheimdienste. Ist deren Einflussnahme wirklich so groß?
Oliver Bottini: In Bezug auf den NSU-Fall ist das ja belegt – siehe die Fehler, Fahrlässigkeiten und eben Märchen der verschiedenen Verfassungsschutzämter. Wer’s noch nicht glaubt, der lese Wolfgang Schorlaus Die schützende Hand über den NSU-Fall, da wird einem dann endgültig schlecht angesichts der Vertuschungen und »Fehler«. Oder nehmen wir den BND – umgeben von Skandalen, die niemals auch nur ansatzweise aufgeklärt werden, zuletzt die verbotene Kooperation mit der NSA. Oder den bizarren Auftritt von Hans-Georg Maaßen kürzlich vor dem NSA-Untersuchungsausschuss. Unter anderem hat er, der Chef des Verfassungsschutzes eines demokratischen (!), rechtsstaatlichen (!) Landes, Edward Snowden als möglichen Agenten Russlands diffamiert. Das heißt im Klartext: Wer wie Snowden schwerste Vergehen von Staatsbehörden gegen Gesetze aufdeckt, muss ein Landesverräter und feindlicher Spion sein. Wer diese Vergehen begangen hat, ist das bedauernswerte Opfer internationaler Spionage, dem übel mitgespielt wurde.
Wie um alles in der Welt kann man als Demokrat so denken? Wäre ich Maaßens Dienstherr, ich hätte ihn nach diesem Auftritt sofort entlassen. Andererseits hätte ich ihn gar nicht erst eingestellt. Wir erinnern uns: Die honorige FU Berlin hat Maaßen 2012 wohl wegen seiner Haltung im Fall Murat Kurnaz eine Honorar-Professur verweigert. Er hatte 2002 in einem Gutachten erklärt, Kurnaz dürfe im Fall seiner Freilassung nicht mehr nach Deutschland einreisen, weil er mehr als sechs Monate außer Landes gewesen und seine Aufenthaltsgenehmigung damit verfallen sei. Dass Kurnaz von den Amerikanern entführt worden war und unschuldig über vier Jahre in Guantanamo einsaß, focht Maaßen nicht an, wie er 2007 vor dem BND- Untersuchungsausschuss noch einmal deutlich gemacht hat.
Offenbar aufgrund dieses Gutachtens hat die deutsche Regierung eine frühere Freilassung von Kurnaz dann verhindert …Bei BKA und den Länderpolizeien wiederum habe ich persönlich eher den Eindruck, dass da durchaus Einzelne sich Fehltritte leisten, dass die Behörden selbst aber weitgehend verlässlich sind – von Ausnahmen abgesehen.
Krimi-Couch: Lieber Oliver, ich teile deine Einschätzung über den alarmierenden Zustand unseres Landes in vielen Bereichen vollumfänglich. Wolfgang Schorlaus Die schützende Hand ist wahrlich ein Augenöffner, weil er sich mit ganz konkreten Verfehlungen im Rahmen der NSU-Morde befasst. Ich sehe dein Im weißen Kreis aber gleichgewichtig und gleich wichtig. Dein Blickwinkel auf die rechtsradikale Szene ist nur ein anderer. Ich finde es wichtig, dass Personen des öffentlichen Lebens – und dazu gehören nun auch die Krimiautoren in solch prekären Zeiten klar Stellung beziehen.
Oliver Bottini: Nehmen wir uns ein Beispiel an unseren erfundenen Helden und Heldinnen, die integer und aufrecht bleiben, wenn um sie herum alle Moral und Menschlichkeit den Bach hinuntergeht.
Das Interview führte Jürgen Priester im Juni 2016.
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