Paul McEuen

Das Geräusch der Gänse

11.2010 »Ein Impfstoff kann eine tödliche Bedrohung sein.« Lutz Vogelsang sprach mit dem Forscher und Autor Paul McEuen über sein Debüt Spiral, biologische Waffen und warum er sich Fotos von seinen Lesern wünscht.

Krimi-Couch: Mr. McEuen, als hochrangiger Wissenschaftler müssen Sie schrecklich beschäftigt sein. Woher haben sie die Zeit genommen, ein Buch zu schreiben?

Paul McEuen: Das frage ich mich auch! Ein Buch zu schreiben erinnert ein wenig an wissenschaftliche Arbeit – der Prozess dauert viel, viel länger als man erwartet, und das Ergebnis überrascht einen normalerweise. Begonnen habe ich das Buch vor sieben Jahren in einem Urlaubsjahr. Ich war mir sicher, es bis zum Ende jenes Jahres fertig stellen zu können, aber ich war noch nicht annähernd so weit. Es folgten Dutzende von Korrekturen, bevor ich das Manuskript verkauft habe, dann noch einige, um es in die endgültige Form zu bringen. Zurzeit schleiche ich mich morgens, an Wochenenden und in den Ferien an meinen Schreibtisch. Für mich ist es ein toller Ausgleich zu meinem Beruf als Physiker – eine Möglichkeit, mein Fachwissen völlig anders zu gebrauchen.

Krimi-Couch: Was sagen Ihre Kollegen und Studenten dazu, dass Sie nun auch Literat sind? Hatten sie schon die Möglichkeit, das Buch zu lesen?

Paul McEuen: Dutzende von meinen Studenten und Kollegen haben frühe Entwürfe des Buches gelesen und mir mit Anregungen und Zuspruch geholfen. Sie sind so begeistert wie ich, das Buch endlich gedruckt zu sehen! Die meisten Wissenschaftler, die ich kenne, waren in ihrer Schulzeit unersättliche Leser. Und viele von ihnen hätten auch gerne geschrieben. Allerdings macht es die Arbeit als Wissenschaftler schwer, Zeit zu finden, ein Buch zu beginnen. Erst recht, eins fertig zu stellen. Ich bin glücklich, wieder an den Teil von mir, der Bücher liebt, anknüpfen zu können und so zumindest in gewisser Weise wieder jung zu werden. Ich hoffe, dass es einige meiner Kollegen jetzt vielleicht auch versuchen.

Krimi-Couch: Der Campus Ihrer Universität und seine Umgebung bilden die Kulisse für den Großteil des Buches. War das lediglich praktisch für Sie oder auch eine Würdigung ihrer Alma Mater?

Paul McEuen: Ich habe immer schon gedacht, dass die Cornell-Universität ein großartiger Schauplatz für einen Thriller sein würde. Die malerische Landschaft Ithacas und daneben die technischen Anlagen der Universität sind eine wunderbare Kombination. Außerdem ist es immer gut, über etwas zu schreiben, was man kennt. Einer der Eindrücke, die mich zum Schreiben des Buches inspiriert haben, war das Geräusch der Gänse, die in den Süden flogen. Es war so trostlos und doch schön. Da begann ich, mich zu fragen, was wohl geschähe, wenn sie etwas transportieren würden, was in einem Labor erzeugt wurde, etwas ungeheuer Gefährliches.

Krimi-Couch: 2001 halfen Sie mit, den deutschen Wissenschaftler Jan Hendrik Schöne des Betruges zu überführen. Ein riesiger Skandal in den USA und auch hier in Deutschland. Sie scheinen kriminalistischen Spürsinn zu besitzen. Eine gute Voraussetzung für einen Krimiautor?

Paul McEuen: Der Schön-Skandal war der dreisteste Betrugsfall, der in der Physik seit Jahrzehnten geschehen ist. Schön hatte ein Angebot für den Direktorposten des Max Planck-Institutes und war Anwärter auf den Nobelpreis. Ich kann mich noch lebhaft an die Nacht erinnern, in der meine Kollegin Lydia Sohn und ich zum ersten Mal Beweise dafür fanden, dass Schön seine Daten fälscht. Seltsamerweise benutzte er dieselben experimentellen Ergebnisse in verschiedenen Studien und behauptete, es wären verschiedene Dinge. Ich lag wach und konnte nicht glauben, dass er so lange damit durchkommen konnte. Die Beweise für seine Schuld waren direkt in seinen Arbeiten, für alle ersichtlich. Den ganzen Skandal mitzuerleben und zu sehen, welche Ausmaße er angenommen hat, hat mir vor Augen geführt, dass Wissenschaftler sehr, sehr menschlich sind. All die Dramen und Betrügereien, die man im Gerichtssaal und an der Wall Street findet, findet man genauso in Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen. Für einen Kriminalautor ist das eine Goldgrube.

Krimi-Couch: Ein Pilz als Waffe! Ihr Forschungsbereich, die Nanotechnologie, ist zwar immer wieder Thema, aber die Waffe selbst hat Mutter Natur konstruiert. Hatten Sie Angst, Ihren Forschungsbereich in ein schlechtes Licht zu rücken, indem Sie eine Waffe beschreiben, die direkt auf ihren Studien beruht?

Paul McEuen: Um ehrlich zu sein fand ich es in der Tat einfacher, mir eine unheimlich gefährliche Waffe auszudenken, die biologisch ist. Als ich anfing, mich mit Pilzen zu beschäftigen, war ich verblüfft, wie gefährlich diese kleinen Kreaturen sein können. Pilze sind sogenannte Saprobionten. Sie ernähren sich von abgestorbenen Organismen und manchmal unterstützen sie diesen Prozess, indem sie töten. Pilze produzieren Stoffwechselprodukte, die man Mycotoxine nennt. Diese Verbindungen können jemanden erbrechen lassen, die Leber zerstören, Krebs erregen oder wahnsinnig machen. Ganz bestimmt sind im Laufe der Geschichte mehr Leute durch Pilze getötet worden als durch Nanotechnologie. Aber ich sollte sagen, dass auch sie in Spiral nicht zu kurz kommt: Die vielleicht grausigste Stelle des Buches ist eine Folterszene, in der die Folterwerkzeuge pure Nanotechnologie sind: winzige Miniroboter.

Krimi-Couch: Sie schildern in ihrem Buch Biowaffenprogramme, die auch vor Menschenversuchen nicht zurückschreckten: Die japanischen Labore in Harbin oder Josef Mengele in Auschwitz. War die Recherche schwer für sie? Ist es für einen Forscher besonders hart, zu sehen, wie viele grausame Verbrechen im Zeichen der Wissenschaft verübt wurden?

Paul McEuen: Die Schilderungen über die Einheit 731 und die tausenden von Chinesen, die dort gefoltert wurden, waren wirklich hart zu lesen und zu beschreiben, aber ich wollte einen Teil dazu beitragen, dieses schreckliche Verbrechen ans Licht zu bringen. Wir sollten niemals vergessen, wie grausam Menschen handeln können, und das schließt Wissenschaftler sicherlich mit ein. Reine Vernunft ist für Gräueltaten besonders empfänglich. Wenn der Kopf komplett vom Herzen abgekoppelt ist, ist jede Grausamkeit möglich.

Krimi Couch: Viele Ihrer Charaktere hadern noch mit ihren Erfahrungen als Soldaten. Besonders Ihr Protagonist Jake Sterling scheint von seiner Zeit im Irak verfolgt zu werden. Sind das authentische Erfahrungen, die Sie oder Angehörige von Ihnen gemacht haben?

Paul McEuen: Ich selbst habe nicht im Militär gedient. Allerdings hat mein Großvater im Zweiten Weltkrieg gekämpft und hatte die undankbare Aufgabe, japanische Soldaten, die sich in Höhlen verschanzt hatten, heraus zu treiben. Er wurde zweimal schwer verwundet und wäre fast gestorben. Er hat nicht gerne über seine Erlebnisse gesprochen, aber selbst als Kind habe ich gemerkt, dass sie ihn sehr beschäftigt haben – er konnte Menschen nicht leiden sehen. Viele seiner Medaillen bewahre ich in einem Karton auf. Ich habe sie mir oft angeschaut, als ich das Buch geschrieben habe. Trotz allem, was er erlebt hatte, hasste mein Großvater die Japaner nicht. Er sah in ihnen lediglich Männer, manchmal Jungen, die versucht haben, ihre Familien und ihr Heimatland zu beschützen. Ein Soldat im Einsatz leidet schrecklich, und dieser Schmerz geht niemals völlig weg. Als ich mich eingehender mit den Japanern beschäftigt habe, war ich besonders von den Kamikaze-Piloten fasziniert, die den Krieg überlebt haben. Ich habe mich gefragt, wie es wohl sei, sich selbst zu opfern, einer der lebenden Toten zu sein, und dann nicht zu sterben. Das spiegelt sich in der Figur des Hitoshi Kitano wider: Ein japanischer Milliardär, der psychologisch immer noch in einer Mission gefangen ist, auf die er sechzig Jahre zuvor geschickt wurde.

Krimi-Couch: Sie schreiben in ihrem Buch, dass sich die Einsätze erhöhen, sobald man zur Waffe greift. Man müsse dann auch gewillt sein, sie zu benutzen. Befürchten Sie ein biologisches Wettrüsten oder sogar einen neuen Kalten Krieg?

Paul McEuen: Ich mache mir große Sorgen. Nach dem 11. September explodierten in den USA die Etats für die Erforschung biologischer Waffen, zum Beispiel in Einrichtungen wie Fort Detrick. Ein ähnliches Wachstum sieht man in anderen Ländern. Obwohl Politiker behaupten, dass das alles reine Abwehrmaßnahmen seien, ist die Unterscheidung recht unscharf. Auch ein Impfstoff gegen einen tödlichen Virus ist eine schreckliche Drohung, wenn man ihn unter Verschluss hält. Eine Nation könnte den Virus über feindlichem Gebiet freisetzen und den Impfstoff so lange zurückhalten, bis der Gegner geschwächt ist. Wie Liam Connor in meinem Buch sagt: »Erschaffst du ein Heilmittel, erschaffst du eine Waffe.«

Krimi-Couch: Sie haben einen sehr bildhaften Stil: Der Gegensatz zwischen dem ländlichen Neu-England und den Hightech-Laboren, leuchtende Pilze oder autonome Miniroboter. Meines Erachtens eignet sich das Buch sehr gut für eine Verfilmung. Würden Sie Ihren Thriller gerne verfilmt sehen? Gibt es vielleicht schon Überlegungen?

Paul McEuen: Ich würde Spiral liebend gerne auf der großen Leinwand sehen! Die Filmrechte hat sich Chockstone Pictures gesichert. Eine tolle Filmgesellschaft, deren letzter Film eine brillante Adaption von Cormac McCarthys The Road war. Sie haben einen professionellen Drehbuchautor mit der Umsetzung beauftragt. Gerade in diesem Moment wartet der erste Drehbuchentwurf in meinem E-Mail-Posteingang. Filme können Kriminalautoren eine Menge über die Wichtigkeit beibringen, eine Geschichte voran zu treiben. Eine der richtig tollen Anleitungen über den Aufbau von Geschichten – Story von Robert McKee – ist eigentlich über das Schreiben von Drehbüchern. Einer meiner absoluten Lieblingsschriftsteller, William Goldmann, hat einen Fuß in beiden Welten: Er schreibt brillante Romane und Drehbücher.

Krimi-Couch: Arbeiten Sie an einem neuen Buch? Wenn ja, können Sie uns ein wenig darüber erzählen?

Paul McEuen: Ich arbeite an einem neuen Buch, aber es ist noch im Embryonalstadium. Ich bin sicher, dass es eine ganz eigenständige Persönlichkeit besitzt, aber – wie bei allen ungeborenen Babys – liegt diese noch im Dunkeln. Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass man ein bisschen über Wissenschaft lernt, und dass viele schlimme Dinge passieren.

Krimi-Couch: Ich schätze, Sie werden wenig Zeit finden, Ihr Buch in Deutschland persönlich zu bewerben. Zum Beispiel in Form einer Lesereise. Gibt es etwas, was sie ihren deutschen Lesern sagen möchten?

Paul McEuen: Als allererstes hoffe ich, dass Ihr das Buch genießt. Es war wahnsinnig aufregend für mich, als die Rechte für Deutschland auf der Frankfurter Buchmesse verkauft wurden, die ersten Rechte für das Ausland überhaupt. Ich freue mich außerdem, dass das Buch gerade in Deutschland Weltpremiere feiert. Unter meinen Autorenkollegen sind die Deutschen bekannt dafür, völlig versessen auf Krimis zu sein. Scherz hat mit der Vermarktung tolle Arbeit geleistet; besser als es sich ein Debüt-Autor erhoffen kann. (Man kann sogar ein Auto gewinnen!) Es war aufregend, den Verkaufsstart hier aus den USA zu beobachten, wo das Buch erst im März 2011 erscheinen wird. Ich würde mir nur wünschen, mein Buch zum ersten Mal in einer richtigen Buchhandlung zu sehen. Wenn Ihr wollt, könnt ihr mir ein Foto von Spiral aus eurem Buchladen schicken: paulmceuen(at)gmail.com. Dafür wäre ich wirklich dankbar!

Das Interview führte Lutz Vogelsang im November 2010.

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