Nele Neuhaus

Ganz normale Menschen, ganz normale Umfelder, ganz normale Realität

10.2012 Kindesmissbrauch, Rockerbanden, Snuff-Movies – Nele Neuhaus greift in ihrem neuen Roman Böser Wolf in die Vollen. Darüber und über ihren kometenhaften Aufstieg am Krimihimmel sprach sie mit Lars Schafft – und warnt ihre Leser.

Krimi-Couch: Frau Neuhaus, gerade ist der sechste Band der Bodenstein-und-Kirchhoff-Reihe erschienen – Böser Wolf – und man kann mit Fug und Recht behaupten, Sie sind in Deutschland ein Krimi-Star mit einer siebenstelligen Auflage. Ist der Druck da nicht ziemlich groß gewesen für dieses Buch?

Nele Neuhaus: Ja, das werde ich öfter gefragt. Aber tatsächlich ist es so: Wenn ich am Schreibtisch sitze und schreibe, dann ist es wie früher, dass ich genauso wie früher in meiner Arbeit versinke, weil es mir einfach immer noch riesig Spaß macht. Den Druck kann ich noch ganz gut von mir fernhalten, den größten Druck mache ich wohl mir selbst.

Krimi-Couch: Sie haben sich fürs Schreiben extra nach Hamburg zurückgezogen?

Nele Neuhaus: Ich hatte auch ein paar familiäre Probleme zu lösen, und da bot es sich an, tatsächlich ein wenig Distanz zwischen die Sachen zu bringen. Ich war drei Monate in Hamburg und dort konnte ich natürlich sehr intensiv und ungestört von allem arbeiten.

Krimi-Couch: Familiäre Probleme ist ein gutes Stichwort, denn darum geht es in Böser Wolf, auch wenn der Titel ein bisschen verniedlichend klingt. Denn wir haben es mit einem ganz heiklen Thema zu tun, nämlich Kindesmissbrauch. Wie kam es dazu, dass Sie gesagt haben: »Das möchte ich mal in einem Krimi thematisieren«?

Im vergangenen Jahr, als ich den Bösen Wolf entworfen habe, war das alles noch ein bisschen vage. Und dann ergab es sich zufällig, dass ich vom Frankfurter Mädchenhaus eine Schirmherrschaft angeboten bekam. Es ging darum, Spenden für das Mädchenhaus zu sammeln und da habe ich gerne zugesagt und kam mit den Therapeutinnen dieser Einrichtung ins Gespräch. Man hört oder liest ja in der Presse immer diese plakativen Fälle, wenn da jemand seine Töchter jahrzehntelang im Keller einsperrt, und dann gruselt man sich ein bisschen und denkt sich, »das ist ja völlig pervers!« und das warŽs dann aber auch schon.

Aber da habe ich eben erfahren, wie nah dieses furchtbare Thema tatsächlich ist und wie nah im Alltag völlig normale Menschen sind, von denen man überhaupt nicht annimmt, welche Gewalt sich da hinter verschlossenen Türen abspielt. Das hat mich so betroffen gemacht, dass ich wirklich angefangen habe, darüber nachzudenken, ob ich nicht doch gegen meine eherne Regel verstoße und das doch tatsächlich zu einem Thema mache. Wie das dann so ist, wenn man sich mit einem Thema beschäftigt, recherchiert, mit Betroffenen und Therapeuten spricht, kristallisiert sich irgendwann eine Geschichte heraus und da habe ich dann gesagt: »Genau das werde ich tun.« Wobei ich auch meine, dass ich diese Gewalt gegen Kinder nicht unbedingt plakativ darstelle, sondern es stehen wieder die Figuren im Vordergrund mit ihren Abgründen und zum Teil wirklich grauenhaften Charaktereigenschaften.

Nele Neuhaus: Zuerst muss ich erwähnen, dass ich immer gesagt habe, dass ich so ein Thema garantiert nie in einem Buch von mir behandeln werde. Wo es um Gewalt gegen Kinder geht, da hört es auch bei mir so ziemlich auf, ich mag auch keine Bücher lesen, die sich mit dem Thema befassen. Aber ich habe meine Meinung geändert.

Krimi-Couch: Ich könnte mir vorstellen, dass es da bei diesem Thema zwei Risiken gibt: Zum einen, dass wenn man sich als Autor zu sehr damit beschäftigt, man auch ein bisschen die Distanz verliert. Und zum anderen könnte ich mir auch vorstellen, dass der ein oder andere Leser sich auch sagt: »Was die Frau Neuhaus da jetzt macht, das ist mir aber zu starkter Tobak.«

Nele Neuhaus: Das Risiko gehe ich ein. Ich denke, dass es in dem Buch eine sehr bewegende Geschichte ist; dadurch, dass ich Betroffene in den Vordergrund stelle. Ich bin auch sehr gespannt, wie die Reaktion meiner Leser darauf ausfällt. Für jemanden, der selbst kleine Kinder hat, ist es sehr bedrückend zu lesen.

Krimi-Couch: Wie war das bei Ihnen mit der Recherche? Es ist wahrscheinlich nicht einfach, wenn man die Schicksale recherchiert.

Nele Neuhaus: Oh ja, furchtbar! Ganz ehrlich, ich musste manchmal aufhören, und da ich glücklicherweise ja auch noch Jugendbücher schreibe, hatte ich die Gelegenheit dann auch mal für ein paar Tage umzuschwenken, denn das belastet einen schon sehr. Ich habe zum Beispiel von Ulla Fröhling das Buch Vater unser in der Hölle gelesen, dieses Buch ist echt unglaublich. Man kann es gar nicht in einem Rutsch durchlesen, weil es so entsetzlich ist was Menschen anderen Menschen antun. Aber gerade das gehört auch zum Leben dazu, dass man wirklich aufrüttelt. Ich bin keine, die mit erhobenem Zeigefinger schreibt oder belehren möchte, aber ich glaube, dass das Thema beachtet werden muss. Dass Menschen auch wirklich Signale in ihrem Umfeld wahrnehmen und darüber nachdenken.

Krimi-Couch: Ich fand zum einen bemerkenswert, dass Sie noch eins drauf setzen und Snuff-Movies aufgreifen, und – was man in Deutschland in den Nachrichten auch nachvollziehen kann – dass wir vielleicht doch ein Problem mit Rockerbanden haben, überhaupt mit organisierter Kriminalität. Auf der anderen Seite geht es um ganz normale Menschen, die Sie da schildern – also »normal« von außen.

Nele Neuhaus: Das ist ja genau der Punkt, was ich in meinem Büchern eigentlich immer mache: Ganz normale Menschen und ganz normale Umfelder. Eine ganz normale Realität, die sich jeder Mensch vorstellen kann, weil er darin lebt, und hinter diesen ganz normalen Gesichtern stecken wirklich Abgründe. Denn die Monster, die man in Hollywoodfilmen sieht, die gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Ich glaube tatsächlich, dass die schlimmsten Verbrechen von den harmlos aussehenden Leuten begangen werden und die Umwelt sagt: »Naja, so schlimm kann der doch gar nicht sein, der sieht doch ganz nett aus«, aber in der Realität ist es anders.

Krimi-Couch: In Böser Wolf haben Sie die Handlung auch nach Frankfurt direkt gelegt. Wo vielleicht bei Ihnen auf dem Cover »Taunus-Krimi« gestanden hat, wäre das jetzt völlig unpassend. Es braucht für diesen Plot schon die Metropole, oder?

Nele Neuhaus: Nicht unbedingt. Wenn ich bedenke, dass der Verein »Sonnenkinder« in Königstein-Falkenstein sitzt (was wirklich im höchsten Hochtaunus ist), die Leiche von dem jungen Mädchen an der Mainschleuse in Eddersheim gefunden wird (Eddersheim ist auch Main-Taunus-Kreis) und die Region, wo Pia Kirchhoff wohnt, ist ja nach wie vor in Hochheim. Aber schwerpunktmäßig geht es schon Richtung Frankfurt und Metropole. Da habe ich mir in meinem sechsten Fall erlaubt, ein bisschen über die Kreisgrenzen zu spazieren und das Umland ein wenig einzubinden.

Krimi-Couch: Ist »ein bisschen« ein Zugeständnis daran, dass Sie als eine der ganz wenigen deutschen Krimi-Autoren auch im Ausland gelesen und übersetzt werden?

Nele Neuhaus: Ich glaube nicht. Wenn ich schreibe, denke ich über so etwas eigentlich gar nicht nach. Ich habe meine Arbeitsweise auch mittlerweile ein bisschen professionalisiert im Gegensatz zu früher, wo ich einfach so drauf los geschrieben habe. Wenn ich den Plot und die Figuren entwerfe, schaue ich schon, wo die Schauplätze sind, wo das spielen kann, wie was erreichbar ist und habe schon eine Landkarte vor Augen. Aber ich denke gar nicht darüber nach wie das im Ausland ankommt, weil ich glaube, dass es da gar keine Rolle spielt, ob es in Bad Soden spielt, oder in Frankfurt oder in Wuppertal oder sonst irgendwo.

Krimi-Couch: Sie sind auch im asiatischen Raum zu lesen.

Nele Neuhaus: Oh ja, allerdings. In Korea hat sich Schneewittchen muss sterben 160.000 mal verkauft. Unglaublich!

Krimi-Couch: Herzlichen Glückwunsch. Aber für die Koreaner ist Frankfurt sicherlich ein bisschen greifbarer als Bad Soden, oder?

Nele Neuhaus: Das denke ich auch. In der japanischen Ausgabe – ich kann zwar nicht lesen, was da steht – ist vorne eine Landkarte eingedruckt und ich glaube schon, dass es für die Leute einfacher ist, die Metropole Frankfurt zu finden. Aber wenn ich jetzt mal so recht überlege, so viel spielt gar nicht in Frankfurt. Da wird zwar einmal der Rockerchef gesucht, der aus Frankfurt kommt, und die Rückbezüge auf die alten Fälle, die dort angesiedelt sind, werden erwähnt.

Krimi-Couch: Ein Motiv, das ich herausstechend fand, ist das der Rache, wobei allerdings wirklich bei Ihnen verschwimmt, wer Opfer und wer Täter ist. Wie viel Verständnis bringt die Autorin denn auf für die – erst Opfer – dann Täter? Denn Sie psychologisieren ja nicht sehr viel, sondern beschreiben eigentlich nur Tathergänge.

Nele Neuhaus: Ja, das stimmt allerdings. Ich werte nicht – das habe ich in meinen anderen Büchern auch nicht gemacht. Weder bei Mordsfreunde, wo es um die Brisanz dieser Landstraße ging, noch bei Wer Wind säht, wo es um die Windkraftwerke ging. Der Autor muss sich zurückhalten mit einer Wertung oder einer Stellungnahme. Ich beschreibe das und überlasse dem Leser zu entscheiden, was er davon hält oder wie er das einordnet. Ich selbst habe überhaupt kein Verständnis für Leute, die Kinder missbrauchen oder überhaupt Menschen irgendetwas antun – gerade mit so einer Gewalt oder Brutalität. Aber die Figur von diesem Helmut Grasser zum Beispiel ist irgendwie auch ein Opfer, wie man so schön sagt »ein Opfer der Umstände«. Das rechtfertigt in keinster Weise, was er tut, aber es ist eine Erklärung dafür, warum er so ist und ich glaube diese Erklärung ist wichtig.

Krimi-Couch: Ist Krimi dann nicht eigentlich das falsche Genre für Sie?

Nele Neuhaus: [lacht] Wenn man diesen Fall jetzt so betrachtet, dann wahrscheinlich schon. Vielleicht geht es auch einfach zu weit, vielleicht habe ich mich da auch freigeschwommen, dass ich die Grenzen, wo ein Krimi anfängt und aufhört, mittlerweile für mich selbst bestimmen kann. Es ist sowieso schwierig: Schublade auf, Krimi raus, Krimi rein – es ist ja doch ein sehr weites Feld, wenn man sich ansieht, was alles als Krimi heutzutage bezeichnet wird. In erster Linie finde ich, erfüllt das Buch die klassischen Voraussetzungen für einen Whodunit: Dadurch, dass der Leser mitverfolgt, wo es lang geht. Aber es wird natürlich durch die vielen verschiedenen Perspektiven, die da eine Rolle spielen, etwas anspruchsvoller.

Krimi-Couch: Und ich würde schon fast sagen, dass sich auch keiner daran stören würde, wenn man »Thriller« draufdruckte.

Nele Neuhaus: Ja, bei diesem Buch speziell auf jeden Fall, das ist schon nicht mehr einfach nur ein Krimi. Ich habe schon immer daran gedacht meinen Lesern etwas zu bieten, wo sie mal schmunzeln können, damit es nicht zu hart wird, und trotzdem überschattet das Thema als solches das ganze Buch.

Krimi-Couch: Sie haben auch richtige Folterszenen und manche Beschreibungen – da gehen Sie zwar nicht im Detail drauf ein – bei denen selbst Ihrer Protagonistin Pia schon schlecht wird. Das macht Böser Wolf nicht gerade zu einer Sonntagnachmittagslektüre.

Nele Neuhaus: Und gerade deshalb bin ich sehr gespannt auf die Lesermeinungen zu diesem Buch. Was das betrifft, ist es ein sehr anspruchsvolles Buch, wobei mein Schreibstil immer noch sehr gefällig und leicht zu lesen ist. Aber das, was Hanna Herzmann passiert, ist schon richtig brutal und warum das passiert, ist noch schlimmer. Aber wenn man sich so ein Thema vornimmt, darf man auch nichts beschönigen. Es ist dann so, wie es tatsächlich in der Realität passiert.

Krimi-Couch: Was ich dann wirklich bedrückend fand, war der letzte Satz in Ihrem Roman, im Epilog. Wir verraten wohl nicht zu viel, wenn wir sagen, dass es kein richtiges Happy-End gibt. Wenn man das Buch zuschlägt, muss man erstmal durchatmen. Es ist eine wirklich harte Geschichte, die an die Nieren geht. Hätten Sie dieses Ende Ihren Lesern nicht ersparen können?

Nele Neuhaus: Ich hätte. Ich habe auch wirklich lange darüber nachgedacht und auch mit meiner Lektorin lange darüber gesprochen, ob man den Epilog einfach weglässt und sich denkt, nun ist jedem irgendwie Gerechtigkeit widerfahren. Aber auf der anderen Seite – und das hatte ich auch schon in meinem Buch Tiefe Wunden, allerdings nicht so extrem – dass das Unrecht irgendwie nicht bestraft wird und das Leben weitergeht. Und so ist es ja leider, dass nicht immer alle bösen Buben hinter Schloss und Riegel landen und das Leben irgendwie weitergeht. Und in diesem Fall habe ich wirklich lange darüber nachgedacht, doch letztendlich beschlossen, dass das erste Ende, das ich mir erdacht habe, auch so bleiben soll.

Krimi-Couch: Durch die Krimi-Couch bekommen wir ja auch mal Feedback, was die Leute für eine Meinung vertreten zu Themen wie Kindesmissbrauch und es ist gar nicht selten, dass dann da steht: »So spannend es auch ist, aber das geht mir einen Schritt zu weit.« Sie machen viele Lesungen – was sagen Sie so einem Leser, der meint, er habe zwar alles von ihnen gelesen, aber das jetzt hier ginge ein bisschen zu weit.

Nele Neuhaus: Das Risiko muss ich eingehen. Aber gerade auf den Lesungen werde ich meinen Lesern und Leserinnen einiges erklären können, auch wie es dazu gekommen ist, dass ich mich mit dem Thema so intensiv befasst habe. Ich werde allerdings – ob es nun verkaufsfördernd ist, oder nicht – auch davor warnen. Auch wenn die Lesungen an sich jetzt vergnüglich ist und in einem schönen Rahmen stattfindet, das Buch an sich ist es überhaupt nicht. Ich glaube schon, dass die ein oder andere Szene für einige Leser zu hart sein wird. Ich denke da an diese Szene, wo Pia mit ihren Kollegen im K11 sitzt und die Details schildert von dem ermordeten Mädchen, die dann alle nur noch betroffen dasitzen und selber gar nichts mehr sagen können, weil sie selber Väter und Mütter sind.

Das Thema ist einfach zu ernst und zu wichtig, dass man einfach riskieren muss, dass der ein oder andere Leser vielleicht eine Runde aussetzt. Im Grunde ist aber die Geschichte meiner Kommissare mittlerweile auch etwas, das meine Leser interessiert – die Fälle sind natürlich auch interessant, aber viele möchte auch wissen, wie es mit Bodenstein und Kirchhoff weitergeht, und ich denke, da habe ich den Spagat ganz gut hingekriegt.

Krimi-Couch: Obwohl ich sagen muss, dass in Böser Wolf der Plot ganz klar im Vordergrund steht.

Nele Neuhaus: Ja, unbedingt.

Krimi-Couch: Pia und Bodenstein spielen weiterhin eine Rolle, aber die beiden sind in allem so tief drin, dass es eigentlich gar keine Nebenschauplätze gibt.

Nele Neuhaus: Ja, das stimmt. Anfangs mag es bei Pia noch so scheinen, als ob, aber hinterher kommt dann raus, dass sie eigentlich die ganze Zeit sehr beteiligt ist an der Sache – dadurch, was eben mit Lilly passiert. Auch wenn es sich jetzt blöd anhört: Ich bin der Meinung, ich habe ein gutes Buch geschrieben! Wie es aufgenommen wird, das bleibt abzuwarten.

Krimi-Couch: Kommen wir doch mal auf Ihre persönliche Geschichte zu sprechen, denn die ist ja ganz interessant. Nicht nur, dass Sie sich beim letzten Krimi-Blitz ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Klaus-Peter Wolf geliefert haben …

Nele Neuhaus: Ja, das war wirklich spannend!

Krimi-Couch: Das hat viele überrascht: Nele Neuhaus, ein neuer Name, huch, wo kommt die denn her? Und wenn man dann noch weiter zurückgeht, stellt man fest: Das ist jetzt keine deutsche Autorin, die von einem großen Verlag den Stempel »Taunus-Krimi« aufgedrückt bekommen, zwei, drei Romane mit recht großer Auflage rausgebracht hat und dann schauen wir mal. Sondern Sie haben als Book-on-Demand angefangen.

Nele Neuhaus: Ja, genau, wirklich ganz im Kleinen. Dazu muss man sagen, dass mein allererster Roman Unter Haien gewesen ist, der damals auf der Krimi-Couch eine sehr gute Rezension bekommen hat – was mich wirklich sehr glücklich gemacht hat, denn Ihr Rezensent war ja quasi der erste, der das Buch gelesen hat, der nicht aus meiner eigenen Familie stammte.

Und damit war es sehr schwierig einen Verlag zu erobern, da ich unbekannt war und das Buch ein riesen dicker Wälzer und der Plot auch noch in Amerika angesiedelt war. Nachdem ich es an sechs oder sieben Verlage geschickt und nur Absagen kassiert hatte, war mir klar: Auf die Art und Weise kriege ich es nicht verlegt. Dann lag es noch ein paar Jahre in der Schublade, was dem Buch gut tat, weil es geschrumpft ist und ein bisschen überarbeitet wurde und dann las ich das erste Mal von dieser »Print-on-Demand« Sache und stellte fest, dass das für mich eine prima Angelegenheit sein könnte. Eben nicht das »klassische« Book-on-Demand, sondern tatsächlich gedruckte Bücher in der Hand halten. Sprich: Ich habe im Prinzip diese Book-on-Demand-Sache als Druckerei benutzt.

Schon hatte ich die ersten fünfhundert Bücher von Unter Haien, habe die in meiner Umgebung verteilt, Lesungen gemacht und eine Buchpremiere veranstaltet. Naja, und dann kam ganz schnell die Frage nach dem nächsten Buch und ich fandŽs eigentlich klasse, so wie es lief, Verlag war für mich eigentlich schon erledigt und habe dann noch Eine unbeliebte Frau und Mordsfreunde quasi im Selbstverlag herausgegeben – Mordsfreunde schon mit einer Erstauflage von 5.000 Stück, weil da auch schon die Buchhandlungen in meiner Umgebung auf meiner Lieferliste standen. Die habe ich dann nachmittags nach der Arbeit abgefahren, kistenweise Bücher dahin gebracht, und alles lief ganz gut. Und erst dann kam die Anfrage aus dem Ullstein-Verlag.

Krimi-Couch: Die sind dann an Sie herangetreten?

Nele Neuhaus: Genau. Da hatte eine Vertreterin von ihrer Frühjahrsreise bei den Buchhandlungen hier in der Gegend aus Königstein ein Buch mit in den Verlag gebracht, da wurde es gelesen, man war ganz angetan von meinem Schreibstil und hat mich gefragt, ob ich nicht ein drittes Buch schreiben will.

Krimi-Couch: Müssen Sie sich da nicht manchmal selber mal hinsetzen und sich vor Augen halten, dass Sie vor ein paar Jahren noch 5.000 Bücher im Selbstdruck herausgebracht haben und jetzt verkauft sich eines Ihrer Bücher eine Million mal? Kann man das glauben?

Nele Neuhaus: Nee [lacht]. Ich weiß noch, dass diese 5.000 Bücher damals knapp in die Garage passten. Das ist so mein Augenmaß. Und wenn ich mir jetzt vorstelle, dass mittlerweile insgesamt 3,2 Millionen meiner Bücher verkauft sind, sprengt das den Rahmen meiner Vorstellungskraft. Ich als Mensch habe mich ja in der Zeit gar nicht verändert, und wenn die Leute mich dann ansprechen oder erkennen, dann muss ich schon mal innehalten und mir ins Gedächtnis rufen: Mensch, du bist ja berühmt. Aber es ist wirklich grandios und es ist toll, dass ich auch im richtigen Moment immer die richtigen Entscheidungen getroffen habe – es freut mich wirklich.

Krimi-Couch: Sie haben sich aber nicht von Ihrem ersten größeren Erfolg erst mal eine größere Garage angemietet …

Nele Neuhaus: Nein, das habe ich dann gelassen [lacht herzhaft]. Das wär noch was, aber Gott sei dank brauche ich ja nun nicht mehr die Bücher selbst herumfahren, das hat sich jetzt erledigt und würde sicherlich auch den Rahmen sprengen mittlerweile.

Krimi-Couch: Gibt es auch viele Neider mittlerweile?

Nele Neuhaus: Ich weiß nicht, ob Neider das richtige Wort ist. Sicherlich gibt es viele Leute, die schreiben und auch gut schreiben, zum Teil sogar besser als ich und die sich denken: Ach, was hat die, was ich nicht habe?

Ich kann das verstehen, denn früher habe ich ja auch über den Gartenzaun geguckt und mir gedacht: Warum finde ich keinen Verlag? Deshalb kann ich das sehr gut nachvollziehen, dass dem so ist. Und ansonsten – so traurig es auch ist – ist Neid oftmals die einzige Art, Anerkennung zu äußern. Was mich selbst aber auch trifft, wenn jemand, den ich von früher kenne, mir meinen Erfolg plötzlich neidet.

Wie es auch aussehen mag, ist es trotz allem nie einfach gewesen, ich musste darum kämpfen überhaupt schreiben zu können, weil mein Ex-Mann es überhaupt nicht akzeptiert hatte. Alles in allem war es ein ganz langer Kampf mit ganz kleinen Fortschritten – rückblickend sieht es natürlich so aus, als sei mir das alles ganz leicht von der Hand gegangen, aber auch ich habe bei Buchhandlungen erfolglos angeklopft und anfangs Lesungen gehalten, bei denen nur drei Leute saßen. Einfach war das alles nicht. Aber so habe ich eben gelernt was ein Verlag alles leistet, was alles dahintersteckt. Ich denke immer, dass man plakativ betrachtet, beneidet wird, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass in dieser Zeit jemand hätte mit mir tauschen wollen.

Krimi-Couch: Diese Erfolgsstory lässt sich sicherlich im Ausland auch unter dem Motto »German Wunderkind« vermarkten.

Nele Neuhaus: Ja, genau.

Krimi-Couch: Aber fortan mit dem Medium E-Book wird ja alles noch einfacher. Es spricht ja nichts dagegen, einfach mal ein Buch zu schreiben und zu versuchen es an den Mann oder die Frau zu bringen, das Internet bietet diverse Social-Media-Plattformen um so ein Buch auch bekannt zu machen. Meinen Sie Ihre Geschichte ist – jetzt wo es mit dem E-Book noch einfacher geht, als mit Book-on-Demand – überhaupt noch ohne Verlag möglich?

Nele Neuhaus: Ich denke schon. Man hört ja immer wieder Beispiele – ich glaube sogar die Autorin von Shades of Grey fing sogar ähnlich an, dass sie das erstmal in irgendwelchen Foren als Fan-Fiction veröffentlicht hatte – das gibt es auf jeden Fall. Und dann ist ja immer noch die Frage: Was wertet man als Erfolg? Für mich war es damals ein Erfolg, als ich 5.000 Bücher verkauft hatte, als die ersten Bestellungen von amazon kamen, als ich auf der Krimi-Couch die erste positive Rezension hatte. Erfolg muss ja nicht immer gleich Millionen auf dem Konto und Top Ten auf der Bestsellerliste heißen.

Wenn man schreibt, sollte man sich Ziele setzen, die erreichbar sind und nicht denken, ich veröffentliche jetzt mal ein E-Book und hoffe, dass ich gleich entdeckt und der zweite Harry Potter werde. Ein bisschen Selbstkritik ist da schon angebracht und zu überlegen, was wäre das tollste, das ich erreichen könnte und was ist mein Ziel, wo will ich damit hin.

Ich wäre schon total happy, wenn ich tausend E-Book-Downloads hätte. Das ist wie ein Stein, der ins Wasser fällt und Kreise zieht. Mein Rat ist auf jeden Fall: Versucht es! Wer schreiben will und schreiben möchte, der sollte es auf jeden Fall versuchen. Auch heutzutage trennt sich auf diese Art und Weise die Spreu vom Weizen und man sollte sich dessen bewusst sein, dass man die ein oder andere Niederlage einstecken muss.

Krimi-Couch: Und was würden Sie jetzt einem Nachwuchsautoren oder einer Nachwuchsautorin raten, warum es trotzdem Sinn macht, einen großen Verlag zu finden?

Nele Neuhaus: Ein großer Verlag kann ganz andere Sachen leisten, als man das selbst jemals kann. Allein schon die Zusammenarbeit mit meiner Lektorin hat meine Arbeit sehr professionalisiert, hat mir Sachen, die ich Anfang falsch gemacht habe, vor Augen geführt. Es ist toll, einen Sparringspartner zu haben, mit dem man sich darüber unterhalten kann, was sehr, sehr wichtig ist was das Schreiben, das Handwerkliche betrifft. Wenn das Buch dann fertig ist, ist es sehr angenehm zu wissen, dass da ein großer Apparat dahintersteht, eine Auslieferung, dass da Vertreter in die Läden gehen und den Buchhändlern die Bücher anbieten, denn da müssen sie ja letztendlich hin. Insofern ist es immer die erste Wahl, es bei einem richtigen Verlag zu versuchen, aber wenn dann da die Absagebriefe kommen – die ich auch gekriegt habe – es ist nicht so, dass ich das nicht kenne …

Krimi-Couch: Haben Sie die noch?

Nele Neuhaus: Garantiert habe ich die noch, sicherlich – ich könnte direkt mal ein paar Verlage anschreiben [lacht] Nein, Quatsch, Unsinn. Es ist ja schon zur richtigen Zeit alles gelaufen, und ich weiß mittlerweile auch, was in den Eingangslektoraten so los ist, dass man da sicherlich das ein oder andere übersieht. Und deswegen rate ich, wenn man wirklich davon überzeugt ist, dass man was Gutes geschrieben hat und etwas, das andere Menschen interessiert, dann würde ich zuerst mal Probeleser suchen – nicht unbedingt die eigene Familie, sondern wirklich Leute, die ehrlich sind – und dann würde ich mir diese Kritik auch zu Herzen nehmen. Das habe ich damals auch so gemacht, ich habe damals für Mordsfreunde fünf Probeleser gehabt und die waren knallhart und ehrlich zu mir – und dann entscheiden: Okay, das ist gut, das könnte gehen und das haben mir jetzt zehn Leute bestätigt, und dann würde ich es wagen.

Krimi-Couch: Dann beginnt für Sie jetzt wahrscheinlich die richtig stressige Zeit: Buch in der Hand,  Buchpremiere, Lesungen, Buchmesse. Zudem wird Ihre Kirchhoff-Reihe gerade verfilmt …

Nele Neuhaus: Zwei sind gerade verfilmt worden, ja.

Krimi-Couch:  Also geht es ja nur noch nach oben und Sie haben auch schon gesagt, dass Sie weiter an dieser Reihe schreiben.

Nele Neuhaus: Ja. Ich habe für den nächsten Roman schon eine ganz konkrete Idee, die ich dann auch irgendwann umsetzen werde, wenn das nächste Jugendbuch fertig ist und ich Anfang Dezember von der Lesereise zurück bin. Dann ist es natürlich auch so, dass ich mittlerweile viel ins Ausland eingeladen werde, um dort Lesungen zu machen. Ja, es geht bergauf, es ist mehr Verantwortung und es ist alles in allem … tja, jetzt ist es mein Beruf und kein Hobby mehr. Dadurch muss ich natürlich auch ernsthafter dranbleiben und wenn es gut läuft, ist es ja auch profitabel für meine Stiftung, wo ich immer sehr viel von dem Geld, das ich verdiene, reinstecke.

Krimi-Couch: Möchten Sie einen kleinen Aufruf dazu starten?

Nele Neuhaus: Die Stiftung verfolgt Ziele, die jeder, der gerne liest, schön finden wird, nämlich dass wir Projekte unterstützen, die die Lese- und Sprachfähigkeit von Kindern und Jugendlichen fördern. Im Moment habe ich noch nicht so viel Geld, um es auszugeben, aber ich habe meinen guten Namen und arbeite zusammen mit Mentor-Die Leselernhelfer oder mit einzelnen Projekten, die das Kultusministerium hier in Hessen anregt. Ich hoffe einfach, dass ich mit Hilfe von Spenden noch mehr aus der Stiftung machen kann, um irgendwann wirklich Großes erreichen zu können.

Krimi-Couch: Frau Neuhaus, dann wünschen wir Ihnen damit viel Erfolg und viel Glück auch natürlich mit Böser Wolf, bei dem ich genauso gespannt bin wie Sie, wie der ankommt.

Nele Neuhaus: Oh ja, super. Danke schön.

Das Interview führte Lars Schafft telefonisch im Oktober 2012.

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