Marc Raabe
11.2019 Nach „Schlüssel 17“ hat der Kölner Bestsellerautor Marc Raabe nun seine Reihe um den Berliner Ermittler Tom Babylon und die Psychologin Sita Johanns mit „Zimmer 19“ spektakulär fortgesetzt. Redakteur Thomas Gisbertz traf den Autor zu einem ausführlichen Interview für die Krimi-Couch. Dabei ging es nicht nur um den aktuellen Thriller. Marc Raabe verriet auch viel über seine Arbeit als Schriftsteller, die Bedeutung seiner früheren Tätigkeit als Cutter beim Film für seine Art zu schreiben sowie die wichtige Rolle, die seine Frau bei seiner Entwicklung als Autor eingenommen hat.
Man kann Menschen manchmal wirklich an winzigen Kleinigkeiten viele Dinge ansehen. Was das angeht habe ich mit meiner Frau gewissermaßen meinen persönlichen Sherlock an meiner Seite.
Krimi-Couch:
Vor kurzem ist der zweite Band der Tom-Babylon-Reihe erschienen. „Zimmer 19“ überzeugt durch ein enormes Erzähltempo, große Spannung und einen wundervollen szenischen Schreibstil. Wie bist Du bei der Planung bis zur Umsetzung vorgegangen?
Marc Raabe:
Es gibt Autoren, die plotten und entwerfen Kapitelfahnen. Die Geschichte ist dann eigentlich auf dem Reißbrett mit lauter einzelnen, geplanten und separierten Kapiteln schon fertig. Ich arbeite dagegen anders, da ich beim Schreiben etwas erleben will und immer das Gefühl haben muss, dass noch etwas passieren kann. Ich brauche Raum für Ideen und muss mit meinen Figuren zusammen einen Weg finden. Das ist mein persönliches Abenteuer beim Schreiben. Konkret bedeutet das: Ich fange vorne bei den Büchern an und höre hinten auf. Zwar habe ich eine Ahnung, wo ich hin will, welche Themen ich im Buch behandeln möchte und was am Ende ungefähr passieren soll, ansonsten ist es aber eher wie ein Sprung aus dem Flugzeug: Ich weiß, ich habe einen Fallschirm dabei und ich weiß, dort unten gibt es irgendwo eine Wiese, auf der ich landen kann. Aber wie ich dort genau hinkommen und ob ich vorher noch einmal über den See gleiten oder scharf an der Bergkante vorbei fliegen muss, das bleibt dann mein Abenteuer.
Krimi-Couch:
Die aktuelle Reihe spielt nicht in Deiner Heimat Köln sondern in Berlin. Erneut greifst Du dabei Verbrechen der DDR-Zeit auf, Was fasziniert dich daran so besonders?
Marc Raabe:
Meine Eltern haben damals unmittelbar vor dem Mauerbau „rübergemacht“ – also sind aus dem Osten in den Westen geflohen. Unsere gesamte restliche Verwandtschaft ist drüben geblieben. Wenn wir später dort hingefahren sind und sie besucht haben, hatte ich immer das Gefühl, dass dort alle so anders sind. Als Kind konnte ich das nicht zuordnen – später war mir bewusst, dass dies etwas mit dem Staat zu tun haben musste - und dem, was er mit den Menschen macht. Ein Staat, der dir vorschreibt, welche Berufe du wählen darfst und welche nicht, und ein Staat, der von Verschweigen, Geheimnistuerei und Überwachung geprägt ist, und der seine Bürger einsperrt – der prägt menschliche Schicksale und das Denken. Manche machen mit, manche verstecken sich, andere leisten Widerstand. All das hat Folgen bis heute – und das interessiert mich.
Krimi-Couch:
Mit Tom Babylon und Sita Johanns hast Du dich für zwei Figuren entschieden, die ebenfalls ihre Vergangenheit nicht loslassen können und deren Verhalten bis heute stark von den damaligen Erlebnissen geprägt ist. Gibt es da Parallelen zu deinen Erfahrungen, die Du gerade beschrieben hast?
Marc Raabe:
Ich bin in dieser Hinsicht ein wenig wie Tom Babylon. Zu Anfang denkt er: Die Narbe, die die ehemalige Mauer in der Stadt hinterlassen hat, das ist nicht seine. Trotzdem geht sie ihm unter die Haut. Aber natürlich geht es in meinen Büchern längst nicht nur um die Rückbezüge zur deutschen Geschichte. Vor allem geht es um Menschen und ihre dramatischen Schicksale. Bei Tom und Sita war mir wichtig, zwei fast gleichwertige Hauptfiguren zu haben, auch wenn es letztendlich die Tom-Babylon-Reihe ist. Außerdem hat mich eine starke Frauenrolle gereizt. Ich mag den empfindsamen Ton, in dem ich bei einer Frauenrolle schreiben kann. Dazu kommt: Tom und Sita sind beide Figuren, die schon fast chronisch etwas verschweigen bzw. Dinge in sich tragen, die sie nicht teilen wollen, weil sie sehr intim sind. Doch sie merken immer mehr, dass sie gemeinsam besser vorankommen, wenn sie ihre Geheimnisse miteinander teilen. Das Verhältnis der beiden zueinander hat mich besonders gereizt.
Krimi-Couch:
Dass deine weibliche Hauptfigur Sita Johanns dann auch noch Psychologin wie deine Frau Meike ist, kann doch kein Zufall sein?
Marc Raabe:
Nein, in der Tat. Ich bin selbst von Psychologie fasziniert. Sie durchdringt ja gewissermaßen alles was wir tun oder lassen. Vielleicht ist dadurch auch meine Begeisterung für Sherlock Holmes zu erklären. Wenn man die Erzählungen liest, könnte man denken: okay, das ist nett beschrieben, aber doch wenig realistisch, dass man jemandem auf die Fingernägel und auf die Flecken am Hemd schaut und man dadurch weiß, wie derjenige ist. Das Verrückte ist: Im Laufe meines Lebens habe ich von und mit meiner Frau gelernt, dass so etwas tatsächlich möglich ist. Man kann Menschen manchmal wirklich an winzigen Kleinigkeiten viele Dinge ansehen. Was das angeht habe ich mit meiner Frau gewissermaßen meinen persönlichen Sherlock an meiner Seite.
"Auch wenn ich beim Schreiben mit Worten erzähle, habe ich oft einen filmischen Blick."
Krimi-Couch:
Ist das auch der Grund, warum Du in deiner Danksagung im aktuellen Band schreibst, dass vieles von dem, wie du heute schreibst, durch deine Frau Meike geprägt ist?
Marc Raabe:
Das betrifft vor allem meinen Blick auf Menschen. Was ich durch sie gelernt habe, ist Menschen anzugucken, sie zu schätzen und auch lieb zu haben. Die Fähigkeit, mich in Figuren hineinfallen zu lassen. Wenn ich heute sagen müsste, was ich am Schreiben so sehr liebe, ist es die Möglichkeit, in fremde Schuhe zu schlüpfen. Ich kann Tom Babylon, Toms kleine Schwester Viola, ein Greis, ein Fiesling, eine DJane oder ein kleiner schwarzer Junge sein. In all diesen Figuren steckt etwas von mir. Ich darf die Welt durch ihre Augen sehen. Das ist ein riesengroßer Schatz.
Krimi-Couch:
Der Plot, der Handlungsort und die interessanten Figuren drängen sich regelrecht auf, verfilmt zu werden. Du selber bist als Geschäftsführer einer Filmproduktionsfirma unter anderen für den Bereich „Schnitt“ zuständig und hast lange als Cutter gearbeitet. Inwieweit hilft dir das beim Schreibprozess?
Marc Raabe:
Die Zeit als Cutter hilft mir tatsächlich sehr. Beim Cutten hat man stets eine grafische Timeline vor sich, die die Geschichte in unterschiedliche Abschnitte unterteilt. Dadurch erkennt man, dass Geschichten eine innere Mathematik besitzen, einen Rhythmus. Und das Schneiden trainiert die Flexibilität beim Erzählen. Inhalte, die in der Mitte stehen, kann ich einfach herausnehmen und probieren, sie an eine andere Stelle zu versetzen. Genauso kann ich auch etwas vom Ende nach vorne stellen. Auch wenn ich beim Schreiben mit Worten erzähle, habe ich oft einen filmischen Blick.
Krimi-Couch:
Muss man sich den Schreibprozess dann so vorstellen, dass Du eine konkrete Szene vor Augen hast, Du dich in einem Raum bewegst und dann überlegst, wie Du diese Szene füllen kannst?
Marc Raabe:
Das ist tatsächlich so. Ich sehe mich selber in der Szene, wenn ich sie schreibe. Dazu kommt, dass ich oft ganz automatisch mit Kamera-Einstellungen arbeite, also zum Beispiel mit Close-ups oder Totalen. Ich finde, dass auch unsere Wahrnehmung so funktioniert. Wenn wir durch die Welt gehen, sehen wir auch nicht alles mit einem weit aufgefächerten Blick, sondern wir wählen aus, wohin wir gucken. Das sind dann unsere Nah-Einstellungen. Wenn ich an irgendetwas besonders interessiert bin, schaue ich auch genau dort hin. Das gibt mir als Filmemacher, aber auch als Schriftsteller, herrliche Möglichkeiten, die Spannung zu lenken: Ich fange nah an, zeige den Schlüssel auf dem Tisch oder die Spritze in der Hand und man fragt sich, was passiert wohl als nächstes mit der Spritze? Wird sie jemanden retten? Oder töten? Was wirklich passiert, verrate ich erst danach, in der weiten Einstellung.
Krimi-Couch:
Für mich ist Bene Czech, ein früherer Freund von Tom, die markanteste Figur in deiner Reihe. Hast Du mit ihm bewusst einen Charakter gewählt, der einerseits Tom immer noch in gewisser Weise nahe steht, diesen aber auch gleichzeitig dazu bringt, die Grenzen des Erlaubten und Legalen zu überschreiten?
Marc Raabe:
Bene gehört dieser Jugendclique um Tom an, die damals eng zusammengehalten hat und die Ereignisse um die Leiche im Fluss und den gefundenen Schlüssel gemeinsam erlebt hat. Ich fand es interessant, dass es zwei männliche Charaktere gibt, die zunächst mal gar nicht so unterschiedlich sind. Tom hätte auch durchaus Benes Karriere einschlagen können. Manchmal stellt man sich die Frage, welcher kleine Spin eigentlich dafür sorgt, dass jemand in die ein oder in die andere Richtung geht. Gerade das finde ich spannend, übrigens auch an die Rückblenden in den Romanen, weil ich hierdurch erklären kann, wann wer welchen Spin erhalten hat. Ich finde es schön, Menschen über ihre Vergangenheit kennenzulernen. Jemanden aus dem Hier und Jetzt zu entschlüsseln, das ist nicht möglich, man bleibt meistens an der Oberfläche. Aber wenn man weiß, wie jemand seine Jugend verbracht hat, versteht man sein Handeln und damit die Figur erst richtig. Dies gilt insbesondere für Sita und Tom.
Krimi-Couch:
Tom Babylon ist grundsätzlich ein ganz spezieller Charakter. Er ist kein Polizist aus Leidenschaft. Seine Arbeit ist eher Mittel zum Zweck, um seine verschwundene Schwester Viola zu finden.
Marc Raabe:
Nicht ganz. Tom ist auch ein moralischer Mensch – was zu einem guten Polizisten passt. Vielleicht liegt hier auch der wichtigste Unterschied zwischen Tom und Bene. Bene ist hedonistischer. Egoistischer. Er sieht etwas und will es haben. Für ihn gelten seine eigenen Gesetze – und nur seine. Tom dagegen denkt sofort über richtig und falsch nach – und dennoch – wenn es ans Eingemachte geht, also zum Beispiel um Viola, dann ist er zumindest bereit, seine eigene Definition von Moral zu finden – die dann nichts mehr mit dem Gesetz zu tun haben muss.
"Unser ach so friedlich arrangiertes Leben ist wie eine dünne Eisschicht über einem tiefen, dunklen See. Und Zack – schon bricht man ein. Das gilt auch für Tom und Sita in meinem aktuellen Roman."
Krimi-Couch:
Autoren ringen häufig lange Zeit mit den richtigen Namen für Ihre Figuren. Wie war das bei dir? Warum hast du dich für den Namen Tom Babylon entschieden?
Marc Raabe:
Ich wollte eine kurzen, knappen Vornamen. Tom fand ich direkt gut. Gleichzeitig musste der Nachname aber etwas Farbe mitbringen. Mir ist dann relativ schnell der Name Babylon eingefallen. Berlin hat für mich immer einen Hauch von Babylon. Die Idee hatte ich übrigens bereits bevor Tom Tykwer bekannt gab, das die TV-Serie um Volker Kutschers Bücher „Babylon Berlin“ heißen wird. Eigentlich ulkig, das ich mir auch noch Tykwers Vornamen ausgesucht habe. In Babylon steckt für mich aber auch noch etwas von Toms Seelenzustand - im Sinne einer babylonischen Verwirrung bzw. des In-Etwas-Feststecken, aus dem man sich nicht einfach lösen kann und in dem man verstrickt ist. Und in diesem Babylon nimmt ihn manchmal die kleine Viola an die Hand und führt ihn. Dummerweise nicht immer hinaus, sondern manchmal auch noch tiefer hinein.
Krimi-Couch:
Man weiß vom schwedischen Thriller-Autor Stieg Larsson, ähnlich wie beim Autorenduo Sjöwall/Wahlöö, dass er seine Millenium-Reihe ursprünglich auf zehn Bücher angelegt hat und beim Schreiben des aktuellen Bandes immer bereits inhaltlich weit voraus war. Wie ist das bei dir?
Marc Raabe:
Ich habe keine feste Zahl an Bänden geplant – es wird aber mindestens vier geben. Und für weitere Bände habe ich bereits einige Ideen. Ich weiß natürlich schon, was in Band drei passiert und habe eine Ahnung, wie ich mir den vierten Teil vorstelle. Aber was wichtiger ist: Ich kenne das Geschichtenpotential meiner Figuren. Die Menschen in meinen Büchern sind die Dreh- und Angelpunkte der Geschichten. Und dann sind da noch meine Joker. Manchmal sitze ich an einer Szene und denke, dass da etwas fehlt. Dann denke ich mir eine neue Figur aus, oft mit einem relativ kleinen Auftritt, die aber das Potential einer großen Geschichte mitbringt. Das ist dann mein Joker. In Zimmer 19 zum Beispiel gibt es einen kleinen farbigen Jungen mit einer Ringelmütze und einem Fruit-Of-The-Loom-Shirt. Diese Figur wird wieder auftauchen. Ich weiß noch nicht wann, aber ich ahne wo und in welchem Umfeld. Da freue ich mich jetzt schon drauf. Es kann bereits in Band drei der Fall sein, dass ich ihn brauche, oder aber erst im fünften Teil der Reihe. Irgendwann werde ich sagen: Jetzt ist es Zeit für dich, mein Freund. Jetzt kommst Du um die Ecke.
Krimi-Couch:
Gibt es denn Pläne, die Reihe zu verfilmen, und würdest Du dann am Drehbuch mitwirken?
Marc Raabe:
Eine große deutsche Produktionsfirma hat sich die Filmrechte an Band 1 und 2 gesichert und will ein Projekt daraus machen. Ob es bis zur Verfilmung kommt ist noch offen. Ich selber lasse aber vom Drehbuch die Finger. Ich habe bereits den Roman geschrieben, und das soll für sich stehen. Ich habe genug Erfahrung in dieser Branche, dass ich weiß: Wer einen Film aus einer Buchvorlage dreht, der muss frei sein, um andere Prioritäten setzen zu können. Das Schreiben von Romanen und das Verfassen von Drehbüchern lässt sich nur schwer miteinander vergleichen.
Krimi-Couch:
Hast Du nicht die große Sorge, dass der Film sich zu sehr von deiner Buchidee löst und dann nicht mehr „dein Kind“ ist?
Marc Raabe:
Das Buch ist „mein Kind“. Ich wäre schlecht beraten, wenn ich versuchen würde, das Filmprojekt mitbestimmen zu wollen, da ich den objektiven Blick trüben würde, den jemand haben könnte, um daraus einen spannenden Film zu machen.
Ich habe mich bewusst für das Schreiben von Romanen entschieden, weil ich keine Beschränkungen in meinen Geschichten haben möchte. Wo kann ich das schon haben? Nur in Romanen, denn dort kostet es mich einen Federstrich, die Handlung nach Hongkong zu verlegen, dieses zu tun oder jenes zu lassen. Ich kann alles denken und schreiben. Dabei gibt es niemanden, der mit mir über Budgets streitet, der mitredet und Einfluss nehmen will. Der Roman verschafft mir eine riesengroße Freiheit, die ich immer in vollen Zügen genieße.
Krimi-Couch:
Was bereitet dir eigentlich mehr Freude: das Schreiben an sich, oder zu erfahren, welche positive Reaktionen auf deine Werke dir die Leserinnen und Leser zeigen?
Marc Raabe:
Für mich gehört beides zusammen. Im übrigen natürlich auch Kritik an meinen Büchern. Mir war von Anfang an klar, dass ich nicht nur für mich schreiben will, sondern damit auch viele Menschen erreichen möchte. Deswegen sind mir die Reaktionen des Lesepublikums wichtig. Außerdem arbeite ich in meinen Schreibphasen auch viel mit Testlesern. Das ist eine kleine Gruppe von mir sehr vertrauten Menschen, die sehr ehrlich mit mir sind. Es gibt die Legende, man solle als Autor nicht auf andere hören, sondern nur seinem eigenen Weg folgen. Ich finde, dass ist nur ein Teil der Wahrheit, denn man will ja mit dem was man schreibt auch verstanden werden. Das Feedback der Leser zeigt mir, was mein Buch mit ihnen macht und was ich daraus lernen kann. Ich sehe das immer als Chance. Das bedeutet nicht, dass ich aufgrund einer kritischen Rückmeldung direkt alles ändere. Aber ich frage mich immer, was mir eine solche Rückmeldung sagen könnte – oder wie ich sie übersetzen muss. Wenn mir jemand sagt, „ich finde die Figur blöd“, dann liegt es vielleicht gar nicht an der Figur selbst, sondern nur daran, dass sie nicht im richtigen Moment einer alten klapprigen Dame ihren Platz anbietet.
Krimi-Couch:
Was ist dann für dich das Besondere am Schreiben selbst?
Marc Raabe:
Es ist mein persönliches Abenteuer. Im besten Fall ist es wie Fliegen.
Krimi-Couch:
Du arbeitest als Geschäftsführer bei einer Produktionsfirma. Wir organisierst Du dabei deinen Schreibprozess? Ich stelle mir das schwierig vor.
Marc Raabe:
In Hardcore-Schreibzeiten mache ich es tatsächlich so, dass ich mir das Frühstück erspare, mit meiner Frau und dem Hund eine Runde durch den Wald gehe, mir dann den Rucksack schnappe und mich mit Hund und Laptop in ein Café verziehe. Da bleibe ich dann bis zum Mittag. Länger nicht, denn nach gut drei Stunden merke ich, dass ich mich leergeschrieben habe. Anschließend fahre ich dann bis zum Abend in die Firma. Das geht natürlich nicht immer. Manchmal hat auch die Firma Vorfahrt. Deswegen brauche ich mit dem Schreiben der Bücher auch immer etwas länger.
Krimi-Couch:
Wir sprechen die ganze Zeit über deine Art zu schreiben und das, was dir dabei wichtig ist. Da stellt sich grundsätzlich die Frage, was für dich einen guten Thriller ausmacht?
Marc Raabe:
Zunächst mal muss er einfach spannend sein. Tatsächlich ist es aber auch mehr: Ein Thriller erzählt von Menschen und muss für mich einen Rückbezug auf das Leben haben. Ich möchte gerne Menschen in meinen Büchern haben, oder selbst auch von Menschen lesen, die ich verstehen kann und die mir real vorkommen. Das heißt nicht, dass sie nicht auch in Problemen stecken können, die größer sind als im wahren Leben. Das muss für mich alles erlaubt sein. Ich finde, dass Bücher auch Dinge verhandeln dürfen, die anders sind als in der Realität. Ich weiß aber auch, dass andere Autoren viel Wert auf eine ausschließlich wirklichkeitsnahe Darstellung legen.
Krimi-Couch:
Trotzdem bleiben deine Figuren aber jederzeit authentisch und glaubwürdig. Insgesamt sind deine Thriller sehr atmosphärisch und dicht geschrieben. Sie wirken auf das Wesentliche reduziert, gleichzeitig hat man nie das Gefühl, dass etwas fehlen würde.
Marc Raabe:
Ich kürze meine Bücher in der Regel im Schreibprozess selbst. Später, nach dem ersten Blick des Verlags auf den fertigen Roman, werden meine Bücher dann wieder etwas länger, in der Regel um 50 Seiten, weil ich merke, dass ich an bestimmten Stellen noch etwas liefern muss, um es präziser oder intensiver zu machen. Das etwas rausfliegt kommt eigentlich nicht vor – jedenfalls bisher. Das knappe auf den Punkt schreiben habe ich sicherlich von meiner Arbeit beim Fernsehen übertragen. Wenn Du einen Film oder einen knappen Werbetrailer erzählst, hast Du keine Zeit zu verschenken. Und gleichzeitig musst Du immer im Blick haben, dass jemand im nächsten Moment umschalten könnte, wenn er das Interesse verliert.
Krimi-Couch:
Trotz der „Kürze“ der Romane umfassen sie aber jeweils über 500 Seiten. Wie verhindert man, dass einem beim zweiten Band keine inhaltlichen Fehler, zum Beispiel bei der Darstellung der Vergangenheit der einzelnen Figuren unterlaufen? Legt man Dossiers dafür an?
Marc Raabe:
Ich nenne das Personalakten. Ich habe mit meiner Lektorin vereinbart, dass sie jeweils nach dem Lektorat zu jeder Figur eine Datei anlegt. Sie liest dann das Buch noch einmal und schreibt alles zusammen, was sich über jede einzelne Figur darin finden lässt. Das hilft mit bei der Figurenentwicklung sehr.
Krimi-Couch:
Was reizt dich an der Gestaltung der Figuren so besonders?
Marc Raabe:
Für mich gehört zum Autorendasein dazu, dass ich immer auch die Untiefen von Menschen auslote und dabei zeige, wie schnell diese kleine und dünne Schicht an Zivilisation und sozialem Miteinander einbrechen kann, wenn es hart auf hart kommt. Dann muss man darum ringen, gut zu sein. Dann entstehen die großen Fragen. Bin ich stark? Schwach? Glaube ich, dass ich gut bin? Warum will ich dann etwas Böses tun? Unser ach so friedlich arrangiertes Leben ist wie eine dünne Eisschicht über einem tiefen, dunklen See. Und Zack – schon bricht man ein. Das gilt auch für Tom und Sita in meinem aktuellen Roman.
Krimi-Couch:
Was kannst Du uns zum Abschluss schon über den dritten Band der Tom-Babylon-Reihe verraten?
Marc Raabe:
Ohne zu spoilern? Hm. Eins ist klar: Viola ist weiter an Toms Seite und ich erzähle mehr von ihr – wie viel mehr verrate ich nicht. Toms und Violas Familiengeschichte wird eine Rolle spielen. Und Tom bekommt es mit einem wirklich teuflischen Gegenspieler zu tun, der ihn zum Äußersten treibt. Ohne Sita wäre Tom verloren.
Das Interview führte Thomas Gisbertz im November 2019.
Foto Marc Raabe: © Gerald von Foris
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