Oliver Hilmes
10.2020 Oliver Hilmes arbeitet seit 2002 für die Stiftung Berliner Philharmoniker und hat sich in den letzten knapp 15 Jahren mit der Veröffentlichung zahlreicher Biografien berühmter Persönlichkeiten einen Namen gemacht. Sein Buch Berlin 1936. Sechzehn Tage im August, in dem er sich multiperspektivisch mit den Olympischen Spielen in Nazi-Deutschland beschäftigt, war 2016 ein Bestseller. Nun ist mit Das Verschwinden des Dr. Mühe sein erster Kriminalroman erschienen. Krimi-Couch-Redakteur Thomas Gisbertz sprach mit ihm über den Zauber Berlins der 30er-Jahre, seine Arbeit am aktuellen Kriminalroman und das Besondere, über einen alten Cold Case zu schreiben.
"Geschichte zu erzählen heißt immer auch Geschichten erzählen."
Krimi-Couch:
Herr Hilmes, stimmt es, dass Sie ihm Rahmen der Recherche zu Ihrem letzten Buch Berlin 1936 auf den Fall des realen Dr. Mühes im Berliner Landesarchiv gestoßen sind?
Oliver Hilmes:
Ja, das ist richtig. Bereits während der Recherchen zu meinem Buch »Berlin 1936« stieß ich im Landesarchiv Berlin auf eine umfangreiche Polizeiakte zum Fall Mühe. Schnell wurde mir klar, dass sich diese Geschichte nicht im Zusammenhang der Olympischen Spiele 1936 darstellen lässt. Ebenso schnell war ich aber auch davon überzeugt, dass das Verschwinden des Dr. Erich Mühe das Zeug für eine eigene spannende und faszinierende Erzählung hat.
Krimi-Couch:
Was hat Sie an der mysteriösen Geschichte des Dr. Mühe so gereizt, dass Sie aus diesem Stoff einen Roman gemacht haben?
Oliver Hilmes:
Was mich an diesem Fall so fasziniert, ist das ständige Wechseln der Richtung: Glaubt man für einen Moment eine Erklärung für das Verschwinden des Arztes zu haben, nimmt die Geschichte in der nächsten Sekunde eine ganz neue Wendung. Es ist ein raffiniertes Vexierspiel, in dessen Verlauf immer neue Spuren und Fährten gelegt werden. Nichts ist so, wie man zunächst glaubt.
»Das Verschwinden des Dr. Mühe« erzählt eine faszinierende Kriminalgeschichte aus der Spätzeit der Weimarer Republik. Das Buch ist aber auch ein Epos über Schuld und Verbrechen und darüber, wozu Menschen fähig sind.
Krimi-Couch:
Sie sind von Haus aus Historiker. Daher verwundert es nicht, dass Sie für Ihren aktuellen Roman sehr akribisch das Leben im Berlin der 30er-Jahre recherchiert haben. Läuft man dabei nicht Gefahr, die eigentliche Geschichte aus den Augen zu verlieren?
Oliver Hilmes:
Nein, ganz im Gegenteil. Geschichte zu erzählen heißt immer auch Geschichten erzählen. Die akribische Recherche und die literarische Darstellung sind für mich immer zwei Seiten einer Medaille.
Krimi-Couch:
Wie bereits in Berlin 1936 gelingt es Ihnen auch diesmal, eine fast schon greifbare Atmosphäre zu schaffen. Selbst Figuren, die nur kurz auftreten, geben Sie ein Gesicht. Warum ist Ihnen dies wichtig?
Oliver Hilmes:
Ich möchte den Leserinnen und Lesern das Gefühl geben, ganz direkt dabei sein und den Protagonisten gewissermaßen über die Schultern sehen zu können. Das erreicht man nur mit einem Höchstmaß an Authentizität. Die vielen Namen, Adressen und lokalhistorischen Details von Frau Kornrumpfs Bandagengeschäft bis zu Aschingers Speisekarte sind daher penibel recherchiert. Wenn ich beispielsweise schreibe, dass im Juni 1932 bei Aschinger Sahnegulasch auf der Karte stand, mag das auf den ersten Blick erzählerisch eine Petitesse sein. Doch in der Gesamtschau entsteht so eine historische Atmosphäre.
Krimi-Couch:
In Ihrem Roman treten zahlreiche Personen auf, die historisch belegt sind. In welchen Bereichen konnten Sie mühelos fiktionale Elemente einbauen und an welchen Stellen fällt es Ihnen als Historiker schwer, von den „geschichtlichen Vorbildern“ und den Fakten über sie abzuweichen?
Oliver Hilmes:
Die von mir aufgefundene Polizeiakte bildet das historische Gerüst. Darüber hinaus konnte ich in anderen Archiven weitere Dokumente finden, denen sich wertvolle Informationen entnehmen ließen. Das alles wurde gewissenhaft recherchiert, die Dialoge sind indes größtenteils erfunden. Dabei ist mir immer an einer möglichst kunstvollen Fiktionalisierung gelegen. Ein Beispiel: Einer Zeitungsnotiz konnte ich entnehmen, dass Mühe in der Nacht seines Verschwindens in einer anrüchigen Kneipe in der Nähe des Alexanderplatzes gesehen worden sein soll. Also habe ich recherchiert, wie damals die richtig zwielichtigen Kaschemmen hießen. So entdeckte ich den »Krug zum grünen Kranze«, den es in der Tat gab und dessen Lage und Einrichtung ich recherchiert habe.
Krimi-Couch:
Zahlreiche Autorinnen und Autoren wie Volker Kutscher, Daniela Larcher alias Alex Beer oder natürlich auch Sie haben in Ihren Kriminalromanen das Berlin oder Wien der Zwischenkriegszeit der 20er- und 30er-Jahre zum Thema gemacht. Was macht das Faszinierende dieser Zeitepoche aus? Und warum eignet sich dies besonders für einen Kriminalroman?
Oliver Hilmes:
Der Erste Weltkrieg veränderte die Weltordnung, stürzte Monarchien, zog Grenzen neu. Inmitten dieser Welt im Umbruch lag Berlin – eine Metropole der Gegensätze, Epizentrum der künstlerischen Moderne. Wohnungsnot und bittere Armut, kühne Modernitätsträume, Vergnügungssucht, Nostalgie und Gewalt prallten aufeinander. Während die politische Klasse die Republik zu Beginn der 1930er-Jahre lahmlegte und das Land in eine Diktatur taumelte, wurden in Berlin noch einmal die Extreme ausgereizt. Gerade das macht die Epoche der »Goldenen Zwanziger« so interessant. Sie ist modern und demokratisch, so wie unsere Gegenwart, und sie ist doch endlos weit weg und ganz anders.
Krimi-Couch:
Eine letzte Frage: Können Sie sich vorstellen, weitere Kriminalromane, vielleicht sogar eine Reihe um Kommissar Keller zu schreiben?
Oliver Hilmes:
Vielleicht – warum nicht?
Das Interview führte Thomas Gisbertz im Oktober 2020.
Foto: © Maximilian Lautenschläger
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