Santiago Díaz Cortés
06.2021 Santiago Díaz hat sich in Spanien über viele Jahre einen Namen als Drehbuchautor und Entwickler zahlreicher preisgekrönter TV-Serien gemacht. Mit Talión veröffentlichte er 2018 seinen ersten Thriller, der nun in der deutschsprachigen Ausgabe beim Heyne-Verlag erscheint. Krimi-Couch-Redakteur Thomas Gisbertz sprach mit Autor Santiago Díaz über seinen Roman, die Frage nach Gerechtigkeit und sein neuestes Projekt.
"Alles, was ich in den achtundzwanzig Jahren als Drehbuchautor gelernt habe, habe ich in meine Bücher einfließen lassen."
Krimi-Couch:
Señor Díaz Cortés, sie haben fünf Jahre als Content Manager beim spanischen Fernsehsender „Antena 3“ gearbeitet und sich anschließend ganz dem Drehbuchschreiben gewidmet. Mit Talión haben sie 2018 ihren ersten Thriller geschrieben. Wie kam es dazu?
Santiago Díaz Cortés:
Mich hat es immer fasziniert, Geschichten zu schreiben; bis vor einiger Zeit habe ich das ausschließlich fürs Kino und Fernsehen getan, aber es war eine natürliche Entwicklung, dass ich eines Tages auch einen Roman schreiben würde. Man muss innerlich dafür bereit sein, einer Geschichte zu begegnen, die einen so sehr packt, dass man viele Monate mit ihrer Niederschrift verbringt, ohne zu wissen, ob irgendjemand sie jemals lesen wird. Doch als mir TALIÓN begegnete, wusste ich sofort: Das ist es! Ich denke, es war die beste Entscheidung meines Lebens.
Krimi-Couch:
Ihr älterer Bruder Jorge ist ebenfalls Buchautor (u.a. Los números del elefante). Hat dies ihre Entscheidung, auch Romane zu schreiben, beeinflusst?
Santiago Díaz Cortés:
Auf jeden Fall. Jorge hat mich immer gedrängt, selbst einen Roman zu schreiben, aber ich dachte, ich sei dazu nicht fähig. Nachdem ich sein Debüt Los números del elefante gelesen hatte, träumte ich davon, eines Tages auch einen so wunderbaren Roman zu verfassen. Wir sind uns sehr nah und unterstützen uns bei allem, gleichzeitig sind wir aber auch gegenseitig unsere schärfsten Kritiker.
Krimi-Couch:
Ihre Hauptfigur in ihrem Thriller Talión, die 38-jährige Journalistin Marta Aguilera, ist eine Frau, die keine Empathie gegenüber Mitmenschen empfindet und kein Schuldbewusstsein zu besitzen scheint. Nun erhält sie von ihrem Arzt auch noch die bittere Diagnose, unheilbar an einem Gehirntumor erkrankt zu sein. Inwiefern verändert dies Martas Persönlichkeit und ihre Sichtweise auf die Welt?
Santiago Díaz Cortés:
Wie Sie schon sagten, ist Marta Aguilera eine Frau, die sich nicht in andere hineinfühlen kann – eine Eigenschaft, die sie mit 2% der Weltbevölkerung teilt. Das macht ihre Beziehungen sehr schwierig. Mit dem Fortschreiten ihrer Erkrankung beginnt sie jedoch paradoxerweise, sich in die Lage ihrer Mitmenschen zu versetzen. Genau darin liegt die Tragik ihrer Geschichte: Je näher ihr der Tod kommt, umso lebendiger fühlt sie sich.
Krimi-Couch:
Marta Aguilera scheint trotz der Diagnose regelrecht aufzublühen, als sie sich entscheidet, gegen das Böse in der Welt zu kämpfen und ihrem Leben damit einen Sinn zu geben. Würden Sie dem zustimmen?
Santiago Díaz Cortés:
Ja, auf jeden Fall. Sobald sie weiß, dass sie sterben wird, will sie dieser Welt ein Zeichen hinterlassen, etwas, das an sie erinnern wird. Ich weiß nicht, ob es die beste Hinterlassenschaft ist, aber Marta will ein klein wenig „aufräumen“, ehe sie für immer verschwindet.
Krimi-Couch:
Als Jugendliche hat Marta bereits Erfahrungen mit Gewalt in verschiedenster Form machen müssen. Bereits damals waren ihre alle Mittel Recht, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Was treibt sie dabei an? Ist es ihr Ziel, denen zu helfen, die sich selber nicht helfen können?
Santiago Díaz Cortés:
Obwohl Marta, wie wir bereits festgestellt haben, unfähig ist, Empathie zu empfinden, hat sie doch ein sehr klares Verständnis davon, was gerecht ist und was nicht. Schon als sie ein kleines Mädchen war, verteidigte sie einen Jungen mit Down-Syndrom, den die anderen quälten. Das gab ihr in gewisser Weise das Gefühl, das Richtige zu tun – ein Gefühl, dem sie seitdem immer gefolgt ist; und nun, da sie weiß, dass nichts mehr, was sie tut, Konsequenzen für sie haben wird, beschließt sie, alle für ihre Schuld zahlen zu lassen, die das wirklich verdienen. Das sind Menschen, die ihr ganzes Leben lang die Schwächsten misshandelt haben.
Krimi-Couch:
Ihr erstes Opfer, den Pädophilen und Kindermörder Jonás Bustos, tötet sie aus Notwehr. Dennoch spürt man, dass sie ihn bewusst provoziert, um somit die „Erlaubnis“ zu haben, ihn töten zu dürfen. Ist dies eine Art Schlüsselerlebnis für Marta?
Santiago Díaz Cortés:
Tatsächlich ist ihr erstes Opfer das einzige, das sie nicht „geplant“ hat. Es hat mit ihrem letzten Auftrag als Journalistin zu tun: einen pädophilen Täter zu interviewen, von dem alle wissen, dass er schuldig ist, der aber aus Mangel an Beweisen freigelassen wird. Das frustriert Marta so, dass sie beschließt, ihn zu provozieren, worauf sie ihn dann, als er sie angreift, tötet. Sie drückt es selbst später so aus: „Jonás Bustos war der Erste, aber es gibt viele andere, die sein Schicksal gleichermaßen verdienen. Das ist das Talionsprinzip.“
Krimi-Couch:
Marta tötet ihre Opfer zumeist nicht schnell und schmerzlos, sondern lässt sie für ihre Vergehen lange büßen. Sie erklärt ihnen sogar den Grund für ihr Handeln. Warum ist beides für Marta so wichtig?
Santiago Díaz Cortés:
Marta beschließt, dass sie genauso leiden müssen wie einst ihre Opfer. Denn während Marta die einzelnen Geschichten erfährt, erkennt sie (und mit ihr die Leserinnen und Leser), dass die Opfer durch die Skrupellosigkeit der Täter die Hölle auf Erden erlebt haben.
Krimi-Couch:
Eine weitere zentrale Figur des Romans ist Inspectora Daniela Gutiérrez, die als leitende Ermittlerin Jagd auf Marta macht. Sie hat vor Jahren ihren Ehemann und ihren ältesten Sohn bei einem ETA-Terroranschlag verloren. Die Journalistin spürt direkt bei ihrer ersten Begegnung eine besondere Verbindung zur Inspectora. Was ist Grund für dieses Gefühl? Ist es die Gemeinsamkeit, dass beide mit dem Schicksal und ihrem Leben hadern?
Santiago Díaz Cortés:
Inspectora Gutiérrez hatte schon immer das Bedürfnis, sich an denjenigen zu rächen, die ihr Leben zerstört haben; nur ihr Beruf hielt sie davon ab. Als sie herausfindet, dass es da jemanden gibt, der sich der Jagd nach solchen Monstern verschrieben hat, kommt sie nicht umhin, eine gewisse Sympathie für Talión zu empfinden – auch wenn sie sie jagen muss. Marta ihrerseits weiß, dass Inspectora Gutiérrez eine dieser Menschen ist, die höchst selbst für Gerechtigkeit sorgen müssen und dass sie diese Welt nicht verlassen wird, ehe sie das erreicht hat.
Krimi-Couch:
Der Leser - und auch die spanische Öffentlichkeit im Roman - sympathisieren mit Marta und ihren Taten. Ähnlich ergeht es auch in gewisser Weise Inspectora Daniela Gutiérrez, die zunehmend an ihrer Arbeit zweifelt. Würde die Ermittlerin gerne wie Marta die Gerechtigkeit in die eigenen Händen nehmen?
Santiago Díaz Cortés:
Ja, tatsächlich erwägt sie immer wieder mal, das zu tun. Aber das kollidiert natürlich frontal mit ihrem Job als Polizistin. Inspectora Gutiérrez führt einen inneren Kampf mit sich selbst, seit ihr Mann und ihr ältester Sohn ermordet wurden. Dass die Leser*innen mit so jemandem sympathisieren, der solche Schurken umlegt, halte ich für normal, auch wenn es natürlich nur Fiktion ist.
Krimi-Couch:
Es gibt im Roman keine Figur, die das Handeln Martas konsequent und standfest verurteilt und sich gegen das Taliónprinzip stellt. War dies eine bewusste Entscheidung? Warum haben Sie darauf verzichtet?
Santiago Díaz Cortés:
Weil wir sie verstehen können, auch wenn wir vielleicht nicht alles teilen können oder damit einverstanden sind, was sie tut. An einer Stelle im Buch werfe ich die Frage auf, was die Öffentlichkeit dazu sagen würde, wenn es wirklich einen gerechten Mörder gäbe, der alle anderen Mörder umbringt. Ich wage zu behaupten, dass bestimmt 70% der Leute auf seiner Seite wären. Was denken Sie dazu?
Krimi-Couch:
Der Heyne Verlag hat in Deutschland Ihren Thriller mit dem Untertitel Die Gerechte veröffentlicht. Geht es Marta tatsächlich um Gerechtigkeit oder nicht vielmehr um Rache? Kann es für die Opfer so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt geben oder müsste man nicht eher von einer inneren Befriedigung sprechen?
Santiago Díaz Cortés:
In der spanischen Originalversion heißt der Untertitel tatsächlich Gerechtigkeit oder Rache? Das muss wohl jeder für sich selbst beantworten, auch wenn ich denke, dass es eher Rache ist, wenn Marta die Person tötet, die ihr geschadet hat. Wenn sie aber anderen damit hilft, also Menschen, die sie quasi gar nicht kennt, dann ist es Gerechtigkeit, Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Krimi-Couch:
Neben der packende Story überzeugt ihr Thriller vor allem mit einem hohen Tempo und einer beeindruckenden Atmosphäre. Profitieren Sie hierbei von Ihrer Erfahrung als Drehbuchautor?
Santiago Díaz Cortés:
Auf jeden Fall. Alles, was ich in den achtundzwanzig Jahren als Drehbuchautor gelernt habe, habe ich in meine Bücher einfließen lassen. Wenn ich fürs Fernsehen schreibe, ist das ein ständiger Kampf gegen die Fernbedienung. Ich muss verhindern, dass die Zuschauer*innen umschalten. Und das schaffe ich nur, wenn spannende Dinge passieren, wenn die Geschichte stetig fortschreitet und nie langweilig wird. Und ich habe natürlich versucht, das auch für Talión umzusetzen und für meinen Folgeroman, Der gute Vater.
Krimi-Couch:
Die Filmrechte an Ihrem Roman „Talión“ sind bereits verkauft. Angeblich ist eine TV-Serie geplant. Können Sie uns bereits mehr darüber verraten?
Santiago Díaz Cortés:
Leider liegen die Pläne seit der Pandemie auf Eis und die Plattformen, die in eine TV-Adaption investieren wollten, zweifeln nun, aber ich bin zuversichtlich, dass bald Licht am Ende des Tunnels zu sehen sein wird. Ich glaube, dass Talión eine Geschichte ist, die es verdient, auf die große Leinwand zu kommen. Wenn irgendeine deutsche Filmfirma Interesse an dem Stoff hat, bin ich natürlich sehr gern für einen Austausch bereit.
Krimi-Couch:
In Spanien wurde bereits im Januar diesen Jahres Ihr Roman El buen padre um die Inspectora Indira Ramos veröffentlicht. Worum geht es dabei?
Santiago Díaz Cortés:
Der gute Vater handelt von einem alten Mann, der sich der Polizei stellt und behauptet, der Entführer dreier Personen zu sein. Diesen wirft er vor, für die Inhaftierung seines Sohnes verantwortlich zu sein, der des Mordes an seiner Frau beschuldigt wurde. Die drei Personen sind der Richter, der seinen Sohn verurteilt hat, der verteidigende Anwalt und eine junge Studentin, die bei seinem Prozess gegen ihn ausgesagt hat. Der Vater ist von der Unschuld seines Sohnes überzeugt und droht, jede Woche einen von ihnen umzubringen, wenn die Polizei nicht den wahren Mörder seiner Schwiegertochter findet. Hier kommt die Inspectora Indira Ramos ins Spiel, eine integre und ehrliche Polizistin, die an einer Zwangsstörung leidet und ihr Leben nach Ordentlichkeit und Sauberkeit ausrichtet. Das macht sie zu einer sehr eigenwilligen Frau.
Krimi-Couch:
Wird der Roman auch in Deutschland erscheinen?
Santiago Díaz Cortés:
Ich hoffe es! In Spanien ist es ein großer Erfolg (wir sind schon in der fünften Auflage nach fünf Monaten) und die Rechte wurden nach Italien und Frankreich verkauft. Es laufen auch Verhandlungen mit Ländern wie Russland und Portugal, sodass ich hoffe, dass es auch bald in Deutschland klappt.
Das Interview führte Thomas Gisbertz im Juni 2021.
Übersetzung: Daniela Gabler.
Foto: © César Martínez Tagle
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