Thomas Engström

03.2019 Andreas Kurth im Gespräch mit Thomas Engström, dem Autor von "West of Liberty".

Geheimagenten gehören zu den wenigen wahrhaft mythischen Kreaturen in unserer heutigen aufgeklärten, weltlichen Zeit. Sie sind Vampire für Erwachsene.

Krimi-Couch:
Ludwig Licht ist ja nicht gerade ein Sympathieträger. Wie kommt man auf so eine schräge Figur als Protagonist eines Thrillers?

Thomas Engström:
Haha, da muss ich sofort an den alten Klassiker aus einer der TV-Debatten während des Wahlkampfes 2008 denken, wo Barack Obama Hillary Clinton als “auch recht sympatisch (likable enough)” bezeichnet hat … Tatsächlich finde ich Ludwig ab und an geradezu herzallerliebst, zugegebenermaßen kann er aber auch ziemlich mürrisch und zynisch sein. Und natürlich macht er im Laufe der vier Bücher eine große Entwicklung durch. Wenn die Leser erst einmal all seine Abenteuer miterlebt haben, hat er sich hoffentlich mehr zu einem echten, wenn auch tragischen Helden gemausert. Figuren mit moralischen Grauzonen haben mich schon immer fasziniert, z.B. Han Solo aus den “Star Wars”-Filmen, Walter White aus “Breaking Bad” oder viele der Protagonisten aus den Romanen von John le Carré. Und im Genre des Agenten-Thrillers befinden sich die Charaktere, anders als im traditionellen Krimi, im Krieg. Sie wollen keine Verbrechen aufklären oder Beweismittel sichern; sie wollen gewinnen. Manchmal eskalieren diese Konflikte und werden zu bewaffneten Schlachten, wie z.B. in Vietnam oder Angola während des Kalten Krieges. Manchmal auch nicht. Aber Geheimagenten sind nie der nette Nachbar von nebenan – außer, sie wollen, dass du sie dafür hältst.

Krimi-Couch:
Der kalte Krieg ist lange vorbei. Warum wirkt ein CIA-Stasi-Doppelagent immer noch so faszinierend?

Thomas Engström:
Geheimagenten gehören zu den wenigen wahrhaft mythischen Kreaturen in unserer heutigen aufgeklärten, weltlichen Zeit. Sie sind Vampire für Erwachsene. Sie arbeiten im Verborgenen und neigen dazu, sich über das Gesetz zu stellen (was in vielerlei Hinsicht sogar stimmt, zumindest wenn sie in ausländischem Gebiet agieren). Während der 90er Jahre gab es eine kurze Zeitspanne, in der der Tod des Agentenromans proklamiert wurde, da der alte Konflikt zwischen Ost und West sich ja aufgelöst zu haben schien. Dieser Konflikt ist mittlerweile gewissermaßen zurückgekehrt, spätestens seit der Krim-Krise (wenn es nach den Russen geht, ist natürlich der Westen aufgrund seines Anerkenntnisses der kosovarischen Unabhängigkeit 2008 schuld an dem Konflikt). Und mit China zeichnet sich am Horizont schon die nächste Supermacht ab, was alles nur noch komplizierter macht. Außerdem haben wir einen blutigen Bürgerkrieg in Syrien, der nicht nur die ganze Region betrifft, sondern zumindest zum Teil auch die USA und Russland. Der internationale Aufschrei, als auf britischem Grund und Boden gewisse Individuen vergiftet wurden, ist der allgemeinen Leserschaft sicherlich auch nicht entgangen. Die Leute sind sich sehr wohl bewusst, dass (Doppel-)Agenten, Spione und Söldner nach wie vor unter uns sind. Wer würde das nicht spannend finden?

Krimi-Couch:
Lichts Chef ist ein Stationschef der CIA am Ende seiner Karriere. Welche Bedeutung hat Clive Berner für die Geschichte?

Thomas Engström:
Clive Berner ist Ludwigs einziger Freund. Er hat ihn in den 80ern angeworben und ausgebildet. Leider ist er kein allzu guter Freund. Bei seinen eitlen Versuchen, in einer Welt im Wandel noch eine tragende Rolle für sich selbst zu finden, schleift er Ludwig immer wieder mit, und Ludwig ist nicht besser dran dadurch, dass er Clive jedes Mal unterstützt. Es ist eine ungesunde und höchstkomplexe Beziehung. Beide haben im finstren Dickicht der Weltpolitik oftmals dieselben Erfahrungen gemacht, aber Berner glaubt immer noch an Amerikas Vormachtstellung. Ludwig nicht. Berner kommt in allen vier Büchern eine große Rolle zu, und es hat mir sehr viel Spaß gemacht, seine Szenen zu schreiben, weil er so direkt und geladen und ein Macho der alten Schule ist. Die Figur ist zum Teil inspiriert von Dick Cheney, einer Persönlichkeit, die ich immer wahnsinnig interessant fand.

Krimi-Couch:
Bei einem ehemaligen Stasi-Mitarbeiter würde man erwarten, dass er sich in Ostberlin etabliert hat - Licht ist im alten Westen unterwegs. Warum haben Sie ihn in Kreuzberg angesiedelt?

Thomas Engström
Als die DDR verschwand, verschwand Ludwig mit ihr. Schließlich hat er immer davon geträumt, in einer freien Gesellschaft zu leben und sich ein Leben als ehrlicher Unternehmer aufzubauen. Zugegeben, er ist nicht besonders gut darin, aber versucht hat er es allemal … Nach dem Kollaps der alten Ordnung war das Erste, was er tat, in den Westen umzuziehen. Charlottenburg oder Dahlem konnte er sich nicht wirklich leisten, also wurde es Kreuzberg. Und ich habe das Gefühl, dass es ihm dort gefällt, weil die Gegend ein solcher Schmelztiegel unterschiedlichster Menschenschläge ist. Auch meine eigene Liebesbeziehung zu Berlin fing damals in Kreuzberg an.

Krimi-Couch:
Hydraleaks und Lucien Gell - da denkt man sofort an Wikileaks und Julien Assange. Welche Botschaft wollen Sie ihren Lesern mit diesem Roman vermitteln?

Thomas Engström:
Den Roman habe ich geschrieben, lange bevor bekannt war, dass Assange in einer Botschaft Asyl gefunden hatte. Als ich davon hörte, war ich geplättet – die Wirklichkeit hatte sich quasi an meinem Gedankengut bedient! Die Botschaft in West of Liberty ist folgende: wir sind Europäer und sollten anfangen, uns auch so zu verhalten. Wir können auf keine Kraft von außen vertrauen, um unsere Probleme zu lösen, sei es nun die USA, Russland oder ein dubioser Whistleblower wie Wikileaks. Der Kalte Krieg hat wieder begonnen, doch diesmal sollten wir vorher wirklich gründlich durchdenken, was wir brauchen und wer wir sein wollen. Für mich persönlich liegt die Antwort in einer stärkeren, stabileren Europäischen Union. Doch individuelle politische Ansichten sind ganz egal. Wichtig ist, dass Europa seine Rolle auf der politischen Weltbühne findet.

Krimi-Couch:
Eine Frage zur Verfilmung: Wenn man das Buch liest, erscheint die Rolle des Ludwig Licht dem Schauspieler Wotan Wilke Möhring auf den Leib geschrieben. Hatten Sie Einfluss bei der Besetzung, oder überhaupt bei den Dreharbeiten?

Thomas Engström:
Ich bin einer der ausführenden Produzenten der Serie, aber mit dem Besetzungsprozess hatte ich nichts zu tun. Ich war hauptsächlich in beratender Funktion an der Erstellung der Drehbücher beteiligt. Wotan Wilke Möhring ist umwerfend als Ludwig Licht, und ich könnte mit dem Ergebnis nicht zufriedener sein. Als ich die Serie zum ersten Mal am Stück angeschaut habe, war ich überwältigt. Alle Beteiligten, einschließlich der Regisseurin Barbara Eder und Lars Eidinger als Lucien Gell, tragen dazu bei, aus der Serie eine großartige Adaption des Buches zu machen.

Krimi-Couch:
Sollen die drei weiteren Bände der Reihe ebenfalls verfilmt werden?

Thomas Engström:
Ja, so ist es geplant. Mehr kann ich an dieser Stelle leider nicht sagen. Die „Ludwig Licht“-Bücher spielen zuerst in Deutschland, dann in Pennsylvania und Washington D.C., dann in Florida und Kuba, und der letzte Teil schließlich in Georgien (wo meine Frau und ich zwei Jahre lang gelebt haben). Da sind natürlich ganz schön viele beteiligt – die schwedische Produktionsfirma Anagram, Network Movie und das ZDF aus Deutschland, ITV in Großbritannien –, dementsprechend ist der organisatorische und logistische Aufwand enorm. Das große Glück ist, dass sich Europa langsam seines Potenzials als eine der großen globalen Unterhaltungsindustrien bewusst wird. Ich bezweifle sehr, dass ein derart großes und kompliziertes Projekt vor 10 oder 15 Jahren hätte umgesetzt werden können, aber das neue Goldene Zeitalter des Fernsehens, in dem wir uns nun befinden, hat alles verändert.

Krimi-Couch:
Wann geht es in Deutschland weiter mit Ludwig Licht - und wohin führt ihn sein Weg?

Thomas Engström:
Meinem Kenntnisstand nach möchte Bertelsmann das zweite Buch South of Hell schon diesen Herbst veröffentlichen. Der dritte und der vierte Band werden kurzfristig folgen – noch im Herbst oder im Frühjahr, denke ich. Und wer weiß, wenn alles gut läuft, schreibe ich vielleicht noch ein Prequel … Für einen Politthriller kann ich mir keine ansprechendere Zeit vorstellen als die 1980er Jahre. Damals war ich noch ein Kind. Es wäre sehr spannend, etwas über diese seltsame Epoche zu schreiben, als wir alle in Angst vor dem Atomkrieg lebten – und trotzdem das Gefühl hatten, die Zukunft gehöre uns.

Das Interview führte Andreas Kurth im März 2019.
Übersetzt aus dem Englischen von Yannic Niehr.
Foto: © Mathias Blom

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