„Baby Farming“:
Der Tod fährt reiche Ernte ein
Ein Krimi-Couch Spezial von Dr. Michael Drewniok
Fruchtbarer Boden für ein furchtbares Verbrechen
Am Dienstag, dem 10. Juni 1896, öffnete sich um 9 Uhr morgens die Falltür, auf der Amelia Dyer unter dem Galgen des Newgate-Gefängnisses zu London stand. Nach Ansicht ihrer Zeitgenossen stürzte sie nicht nur in den Tod, sondern fuhr direkt zur Hölle: Selten wurde ein Verbrecher - männlich oder weiblich - so gehasst wie Dyer. Sie hatte ein Verbrechen auf die Spitze getrieben, das von der Öffentlichkeit lange ausgeblendet wurde: den systematischen Kindsmord. Dyer nahm im Laufe ihrer drei Jahrzehnte währenden Tätigkeit als ‚Ersatzmutter‘ eine hohe Zahl von ‚Pflegekindern‘ auf, die sie umbrachte, sobald das gewöhnlich nur einmalig gezahlte Unterhaltsgeld ‚verbraucht‘ war. Sie ‚ersetzte‘ die Opfer dann durch ‚neue‘ Kinder, denen es ebenso erging.
Die schärfsten Prüfer der Justiz sind jene, die planmäßig gegen das Gesetz verstoßen. In diesem Umfeld geht es nicht um Übeltaten, die im sprichwörtlichen Affekt, d. h. mehr oder weniger ungeplant begangen und deshalb relativ bald aufgeklärt werden. Solche Übeltäter verschwinden rasch von der Bildfläche. Berufsverbrecher kennen und klopfen das Gesetz auf der Suche nach Lücken und blinden Flecken sorgfältig ab. Dazu ist kein Studium nötig, zumal man auf den Bemühungen gescheiterter Vorgänger/innen aufbauen kann. Amelia Dyer blieb Zeit genug, ihr perfides Treiben nach der Methode „Versuch & Irrtum“ zu perfektionieren.
Zwar ist keineswegs automatisch gestattet, was nicht explizit verboten wird, doch die Justiz unterliegt eigenen Regeln, die vor Gericht gern und ausführlich interpretiert werden. Notfalls werden Gesetze ergänzt, hin und wieder sogar korrigiert, doch dies kann lange dauern, was wiederum den erwähnten Berufskriminellen in die Hände spielt. Das Verbrechen der Amelia Dyer - die hier exemplarisch in den Mittelpunkt gestellt wird, obwohl sie nur eine von vielen professionellen Kindsmörderinnen war -, profitierte zusätzlich vom zeitgenössischen Sozialalltag, der von rigiden Gesetzen und Moralvorstellungen geprägt und tief verinnerlichtes Element einer Gesellschaft war, die der Tat nur ungern Aufmerksamkeit schenkte, weil dies dazu zwang, sich der Ursache zu stellen - und diese lag dort, wo es so ‚schmutzig‘ zuging, dass ehrbare Männer und Frauen sich fernhielten.
Unsere Geschichte spielt in Großbritannien, obwohl es darüber hinaus in anderen Ländern zu ähnlichen Kindsmorden kam - ‚berühmt‘ wurde beispielsweise die Dänin Dagmar Overbye, die zwischen 1913 und 1920 bis zu 25 Pflegekinder umbrachte. Doch das Phänomen war in seiner extremen Ausprägung eng mit dem viktorianischen Zeitalter und seinem Sittenkodex verknüpft. Als solches wurde es wissenschaftlich untersucht, was eine Überblicksdarstellung erleichtert.
Queen Victoria (1819-1901) regierte das britische Weltreich von 1837 bis zu ihrem Tod. Diese außerordentlich lange Regentschaft wurde erst 2015 durch Elisabeth II. ‚überboten‘. Im 19. Jahrhundert kannten Generationen von Untertanen, die in der Regel deutlich jünger starben als ihre Königin, nur Victoria als ihre Herrscherin. Sie war eine willensstarke Persönlichkeit, die sich als Frau keineswegs ins politische Abseits stellen ließ, und so prägte sie ‚ihr‘ Großbritannien, das um 1900 einen Großteil der bekannten Welt beherrschte.
Victoria war nach dem frühen Tod ihres Gatten Albert (1819-1861) besessen von einer Sittenstrenge, die das Wort „prüde“ nur annähernd erfasst. Nicht grundlos spricht man von der „viktorianischen Ära“ und einer Zeit, in der man selbst die ‚nackten‘ Beine von Möbeln mit Vorhängen schicklich bedeckte. Solche Zuspitzung mag übertrieben klingen und wohl auch sein, doch sie besitzt durchaus ihr Fundament.
Die Angst vor ‚falschen‘ Nachkommen
Diese ‚Sittlichkeit‘ sorgte für einen restriktiven Alltag, in dem man sich mit strengen Vorschriften arrangieren musste, was gleichzeitig dem Verbrechen neue Möglichkeiten eröffneten. Eine Schwangerschaft war in der viktorianischen Ära generell eine anrüchige menschliche Schwäche, die diskret zu bewältigen war und in der für Mutter und Kind nicht selten lebensgefährlichen, ‚unreinen‘ Geburt ihren unheilvollen Höhepunkt fand. ‚Zulässig‘ waren nur Nachkommen, die im Rahmen einer gültigen Ehe zur Welt kamen. Selbstverständlich scherte sich die Realität wenig um solche Vorschriften. Uneheliche Kinder waren wie zu allen Zeiten zahlreich - und gefürchtet, denn die Mutter galt als verworfene Schlampe, die ihre Pflicht gegenüber Kirche und Vaterland der zügellosen sexuellen Raserei geopfert hatte - ein bequemes Vorurteil, das die Männer von jeglicher Verantwortung freisprach.
Viele weibliche Dienstboten wurden von ihren Herren und/oder deren Söhnen belästigt und geschwängert. Ähnlich erging es vielen Fabrikarbeiterinnen, die sich gegen solche Nachstellungen nicht wehren konnten. Hinzu kamen die Kinder aus durchaus gewollten, aber nicht legitimierten Beziehungen. Nicht zu vergessen waren die Kinder von Prostituierten, die bereits aufgrund ihrer Geburt als ‚Verdammte‘ galten. Reverend Benjamin Ward, Gründer der „National Society for the Prevention of Cruelty to Children“ (s. u.) schätzte 1897 die Zahl der jährlich illegitim in England geborenen Kinder auf 50.000!
Für die Kindsväter war eine solche Schwangerschaft zwar peinlich, aber die eigentliche ‚Schuld‘ wälzte man auf die Mütter ab. Sie wurden in der Regel und buchstäblich aus dem Haus gejagt. Auf Unterhaltszahlungen konnten sie nicht hoffen. Seit 1834 befreite der „Poor Law Amendment Act“ Väter von jeglicher Versorgungspflicht für illegitime Kinder. Die Mutter konnte nur auf eine gütliche Einigung hoffen.
Das Kind als Problem konnte gelöst werden, indem man es in eine Pflege oder zur Adoption gab. Erwartungsgemäß übertraf die Zahl der unerwünschten Kinder die der potenziellen Eltern. Die Lösung lag nahe: Gegen eine bestimmte Entlohnung übernahmen professionelle ‚Ammen‘ die Ernährung und Aufzucht mehrerer Kinder; die Wortwahl ist gewollt, denn darauf lief eine solche Unterbringung hinaus. „Kinderliebe“ spielte in einem solchen Arrangement keine Rolle. Ohnehin war ein viktorianisches Kinderleben selbst oder gerade in der Oberschicht von elterlicher Ferne und Strenge bestimmt und in der Arbeiterschaft oft kurz. Der rasante Bevölkerungsanstieg in den Großstädten aufgrund der Industriellen Revolution überforderte die ohnehin lasche Vor-Ort-Kontrolle. Ganze Viertel wurden zu Gettos, in denen man untertauchen und eine ‚Kinderstätte‘ einrichten konnte. Wurde den Betreibern der Boden zu heiß, zog man in ein anderes Viertel oder eine andere Stadt, wo man unter neuem Namen das böse Spiel fortsetzte; die limitierte Kommunikation dieser Ära begünstigte solche nützliche Anonymität.
Geschäft ist Geschäft
Viel zu lange wurde das „baby farming“ von offizieller Seite nur träge beaufsichtigt. Das Problem der ‚überflüssigen‘ Kinder wurde scheinbar erfolgreich und ohne finanziellen Aufwand der öffentlichen Hand bewältigt. Ansonsten darf man sich über die Alltagsrealität im 19. Jahrhundert keine Illusionen machen. Das soziale Netz war schütter, und wer sich ihm anvertraute, wurde eher für sein ‚Versagen‘ bestraft, statt echte Hilfe zu erfahren. Waisen- und Armenhäuser wurden gefürchtet, ihre Insassen drangsaliert und als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Kinderarbeit war im 19. Jahrhundert legitim und üblich. Arbeiterfrauen setzten auch deshalb möglichst viele Kinder in die Welt, weil diese schon in jungen Jahren zur Familienversorgung beitragen mussten. Viele Naturwissenschaftler, Mediziner und Philosophen stellten Säuglinge auf eine Stufe mit Tieren; sie seien noch keine ‚richtigen‘ Menschen, weshalb sie beispielsweise Schmerz gar nicht bewusst spüren könnten.
Die gewerbliche Adoption barg den Keim des Missbrauchs in sich. Wie gesagt wurde der ‚Pflegefrau‘ meist eine einmalige Zahlung - meist 10 bis 12 Pfund - geleistet, die dem Kind so lange ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Teller garantieren sollte, bis es alt genug für ein selbstständiges Leben war. Faktisch deckte diese Summe eine solche Spanne nicht ab - dies jedenfalls aus Sicht der ‚Pflegemutter‘.
Rasch suchte und fand man Möglichkeiten zur Kostenersparnis bzw. Profitmaximierung. Praktischerweise waren die betroffenen Kinder wehrlos; meist konnten sie noch nicht sprechen, und für viele war die verbleibende Lebenszeit zu knapp, um es zu lernen. Sparen ließ sich im Einzelfall vor allem an der Nahrung, aber auch an Kleidung oder medizinischer Versorgung. Starb ein Kleinkind an Unterernährung, Schmutz oder Kälte, wurde dies auf dem Totenschein als nicht näher zu definierende Schwäche oder Krankheit vermerkt.
Je früher ein Kind starb, desto höher blieb die Restsumme der Unterhaltszahlung. Wenn der Tod nicht schnell genug kam oder der ‚Pflegerin‘ das Jammern ihrer verhungernden Schützlinge lästig wurde, ließen sich diese mit einem der vielen, im freien Handel kostengünstig zu erwerbenden ‚Beruhigungsmittel‘ auf Opium-Basis (genannt „Mother’s Fried“ oder „The Quietness“) bzw. mit einem tüchtigen Schuss promillestarken Alkohols ruhigstellen.
So begann das eigentlich „baby farming“: Man nahm sich so viel Kinder wie möglich ins Haus. Gehungert, gelitten und gestorben wurde nun in der Gruppe. Ging man als ‚Pflegemutter‘ geschickt genug vor und stieg die Todesrate nicht gar zu auffällig an, konnte man viele lästige, weil hungrige Münder schließen.
‚Karriere‘ einer Großserien-Mörderin
Niemand war im diesem Metier erfolgreicher bzw. skrupelloser als Amelia Dyer. Geboren wurde sie 1836 oder 1837 (auch 1838 und 1839 werden in den Quellen genannt) als jüngstes von fünf (überlebenden Kindern) des Schuhmachers Samuel Hobley in Pyle Marsh, einer Gemeinde nahe der westenglischen Hafenstadt Bristol. Amelia war intelligent und erfuhr eine beachtliche schulische Ausbildung; so konnte sie schreiben und lesen, was zu dieser Zeit für ein Mädchen keine Selbstverständlichkeit darstellte.
Ihre Kindheit war dennoch schwierig. Mutter Sarah verlor nach einer schweren Erkrankung den Verstand, wurde unberechenbar und gewalttätig. Schon in jungen Jahren musste Amelia den Löwenanteil der Betreuung übernehmen, bis die Mutter 1848 starb. Amelia zog aus, blieb aber in Bristol, auch als sie sich mit ihrer Familie überworfen hatte. 1861 heiratete sie Georg Thomas, der bereits 59 Jahre alt war. Schon 1869 war sie Witwe; eine zweite, 1872 mit einem Brauereiarbeiter geschlossene Ehe währte nur kurz. Nachdem sie ihm eine Tochter und einen Sohn geboren hatte, verließ Amelia ihren Gatten, der sie immer wieder misshandelt hatte, behielt aber die Kinder sowie den Nachnamen Dyer.
Amelia begann sich als „nurse“ zu verdingen. Zunächst nahm sie schwangere, aber ledige Mütter auf, die unter ihrer Obhut unbemerkt ihre Kinder zur Welt bringen konnten. Das Geschäft ging gut, denn als verheiratete bzw. verwitwete Frau galt Amelia als vertrauenswürdig. Ihr ‚Kinderheim‘ führte sie in Totterdown bei Bristol. Bald stieg sie ins „Farming“-Geschäft ein. Die Tragödie nahm ihren Lauf, denn Amelia lernte rasch, dass Erbarmungslosigkeit sich positiv auf ihr Einkommen auswirkte.
1879 hätte ihr Schreckensregiment ein vorzeitiges Ende nehmen können. Ein oft ins Haus gerufener Arzt wurde misstrauisch, als die Zahl der von ihm auszustellenden Totenscheine allzu drastisch anschwoll. Doch die Beweislage reichte nur aus, um Amelia der systematischen Vernachlässigung zu überführen. Dafür wanderte sie für sechs Monate hinter Gitter; eine traumatische Erfahrung, die sie veranlasste, zukünftig die Entsorgung der Kinderleichen selbst in die Hand zu nehmen. Mehrfache Umzüge und Alias-Namen sorgten für ihr Verschwinden, bevor geschöpfter Verdacht sich zur Gewissheit verdichten konnte.
Alkohol- und Rauschmittelmissbrauch schwächten Amelias geistige Gesundheit. Ihre ‚Arbeit‘ vernachlässigte sie freilich nie. Doch die Zeiten für kriminelle und mörderische „Baby Farmer“ wurden härter. 1883 formierte sich die „Liverpool Society for the Prevention of Cruelty to Children“ (LSPCC). Man griff die Idee in anderen großen Städten und schon 1884 in London auf, sodass die Einrichtung zur „National Society for the Prevention of Cruelty to Children“ wurde. 1889 übernahm Queen Victoria persönlich die Patenschaft für diese NSPSS, die genauer als bisher üblich kontrollierte, wie Kinder in England be- bzw. misshandelt wurden.
Für Amelia kam das Ende dennoch erst im April 1896. Im Vorjahr war sie wieder einmal umgezogen und lebte nun im südostenglischen Reading, wo sie von ihrer Tochter Mary Ann („Polly“) und deren Ehemann ‚unterstützt‘ wurde. Ein Fährmann barg einen Korb aus der Themse. Darin lagen zwei Kinderleichen. Sie waren in Altpapier gewickelt, das zuvor dem Versand von Waren gedient hatte. Amelia hatte ein Etikett übersehen, auf dem ihr Name vermerkt war.
Der Polizei unterlief dieser Fehler nicht. (Detective Constable James Beattie Anderson, dem die Entdeckung gelang, behielt Papier, Etikett und Gepäckschnur übrigens als ‚Souvenir‘; 2017 entdeckte ein Ur-Ur-Enkel das gruselige Andenken und übergab es dem Thames Valley Police Museum in Sulhamstead, Berkshire.) Das Haus der Verdächtigen wurde überwacht und schließlich durchsucht. Körperliche Überreste fanden sich nicht, dafür jedoch verdächtig viele Belege für verpfändete Kinderkleidung.
Misstrauen erregte auch die rege Korrespondenz, die Amelia mit ihren ‚Kundinnen‘ führte. Viele Mütter trennten sich trotz der juristischen und moralischen Negativfolgen einer unehelichen Geburt nur schweren Herzens von ihren Kindern. Wenigstens aus der Ferne wollten sie über deren Schicksal informiert sein. Amelia spann ein Netz aus Falschmeldungen, die nicht selten in der traurigen, aber zeitgenössisch vertrauten Meldung gipfelten, der Schützling sei einer Krankheit zum Opfer gefallen. Auf diese Weise beruhigte Amelia die Mütter und verhinderte ein persönliches Erscheinen vor Ort, das den Betrug aufgedeckt hätte.
Am 4. April 1896 wurde Amelia verhaftet. Sie hatte bereits ihren Umzug nach Somerset vorbereitet. Ebenfalls in Haft kam Schwiegersohn Arthur Palmer, Pollys Gatte, der als Mittäter verdächtig war. Im Laufe des Aprils wurden entlang der Themse polizeiliche Nachforschungen angestellt. Man zog weitere tote Kleinkinder aus der Themse. Zum Verhängnis wurde Amelia ihr modus operandi: Sie schlang breites Gepäckband um die Hälse ihrer Opfer und erstickte sie. Solches Band fand man nicht nur an den Leichen, sondern auch reichlich in ihrem Haus.
Amelia wusste, dass ihr Spiel aus war. Am 22. Mai stand sie vor dem zentralen Strafgerichtshof in London (Old Bailey). Dort nahm sie die Alleinschuld auf sich. Dem Gericht sandte sie ein Schreiben, in dem sie Arthur und sowie Tochter Polly von jeglichem Mitwissen freisprach. Tatsächlich wurden beide aus Mangel an Beweisen nicht länger behelligt. In Amelias Fall folgte die Jury den suggestiven Worten des Anklägers Horace Avory. Sie benötigte nur viereinhalb Minuten, um sich auf einen Schuldspruch zu einigen. Verurteilt wurde Amelia für die wenigen ihr definitiv nachzuweisenden Morde. Offiziell ging man von mindestens 20 Kindstötungen aus, aber wenn man die Frequenz ihrer Taten hochrechnete, konnte man zu dem Schluss kommen, dass Amelia im Laufe der Zeit bis zu 400 Kleinkinder umgebracht hatte.
Selbstverständlich verurteilte Richter Henry Hawkins sie zum Tode. Auf eine Begnadigung durfte sie nicht hoffen, obwohl sie auf Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit plädierte, wofür es durchaus handfeste Anhaltspunkte gab. Doch nicht nur die Presse raste und stellte Amelia als verabscheuungswürdiges Ungeheuer dar.
In den dreieinhalb Wochen, die ihr zwischen Urteil und Galgen blieben, füllte Amelia handschriftlich fünf Hefte mit ihrer ‚Autobiografie‘, einer wirren Mischung aus Geständnis und Entschuldigung. Als Henker James Billington ihr am 10. Juni die Schlinge um den Hals legte, verzichtete sie auf letzte Worte. Ihre sterblichen Überreste wurden ohne Grabstein auf dem Newgate Prison Cemetery bestattet.
Ende (zwar gruselig, aber) gut, alles gut?
Der Fall Amelia Dyer hatte hohe Wellen geschlagen. Uneheliche Kinder mochten verpönt sein, aber ihre gewerbsmäßige Ermordung wollte man trotzdem nicht dulden. Zudem stand diese Tragödie nicht allein, sondern stellte nur den traurigen Höhepunkt eines Kapitalverbrechens dar, das im britischen Empire gerade allgegenwärtig zu sein schien. In Australien kam im Januar 1894 Adoptiv-‚Mutter‘ Frances Knorr wegen mehrfachen Kindsmordes an den Galgen. Im August 1895 folgte ihr in Neuseeland Minnie Dean; die einzige Frau, die in dem Inselland jemals hingerichtet wurde.
Noch Monate nach Amelias Tod fand die Polizei Kinderleichen, die nur zu bekannte Mordspuren aufwiesen. Allerdings meldete allein die Metropolitan Police bis April 1896 225 tote Kinder, die ihr erstes Lebensjahr nicht erreicht hatten. Zudem musste man von einer hohen Dunkelziffer nicht entdeckter Leichen ausgehen. Diese Morde konnten nicht allein auf Amelia Dyers Konto gehen.
Die NSPCC profitierte vom erkannten Missbrauch einer offensichtlichen Gesetzeslücke. Benjamin Waugh sparte nicht mit drastischen Worten; so bezeichnete er 1897 Amelia Dyer nicht als übermäßig grausam, denn schließlich habe sie ihre Opfer schnell erstickt, statt sie über Wochen verhungern zu lassen. Die schockierte Öffentlichkeit erfuhr, dass selbst Tiere vor dem Gesetz besser dastanden als Kinder.
Die Vorschriften für gebührenpflichtige Adoption wurden verschärft. Nunmehr konnten die Heimstätten ohne Voranmeldung kontrolliert werden. Nichtsdestotrotz fanden findige bzw. kriminelle „baby farmer“ weiterhin ihre Schlupfwinkel. 1898 entdeckten Eisenbahnarbeiter nahe Newton Abbot in Südwestengland ein an der Strecke ausgesetztes Baby gerade noch lebendig. Es handelte sich um ein ‚adoptiertes‘ Kind, und hinter „Mrs. Stewart“, der ‚Mutter‘, verbarg sich Mary Ann „Polly“ Palmer; „Mr. Palmer“ war Gatte Arthur!
1899 starb Ada Chard Williams im Newgate-Gefängnis am Galgen. 1900 richteten Amelia Sach und Annie Walters im Norden Londons ihr ‚Kinderheim‘ ein. Als man ihnen endlich auf die Schliche kam, hatten die „Finchley baby farmers“ nach bewährtem Muster wahrscheinlich mehr als ein Dutzend Kinder umgebracht. Sie starben Anfang Februar 1903 im Rahmen einer Doppel-Exekution.
Die Liste ließe sich mit systematischen Kindsmorden aus den USA, aus Australien und Europa ebenso leicht wie erschreckend verlängern. Selbstverständlich blieb Deutschland nicht ausgeschlossen. Hier erregten u. a. die Tischlergattin Feddern aus Hamburg (1898), die Frau des Kupferschmieds Götze aus Hameln (1902) oder Klara Rost aus Rixdorf bei Berlin (1908) Aufsehen und Abscheu.
Epilog
„Baby farming“ wie hier beschrieben gibt es nicht mehr. Waisen, kranke oder zur Adoption freigegebene Kinder dürfen sich dennoch nicht sicher fühlen. Immer wieder greifen Krankenschwestern zu Medikamenten und bringen jene um, für die sie sorgen sollen, weil sie überfordert sind oder sich zu „Engeln des Todes“ berufen fühlen. Genene Jones tötete zwischen 1970 und 1982 womöglich mehr als 60 Kleinkinder. Lange profitierte sie von der Angst ihrer Arbeitgeber vor einem Skandal, weshalb man Jones zwar verdächtigte, sie aber nur entließ oder ihr die Kündigung nahelegte, woraufhin sie anderenorts ihr Morden fortsetzte. Zwar wird sie das Gefängnis nicht mehr verlassen, doch andere sprangen - und springen - in die Bresche.
Amelia Dyer blieb nicht nur in der Kriminalgeschichte, sondern auch im Volksmund unvergessen. Im berühmten Wachsfigurenkabinett Madame Tussauds war Amelias Figur bis 1979 in der (inzwischen aufgelösten) „Kammer des Schreckens“ ausgestellt. Sie ging als Schreckgespenst in die Folklore ein. Lange sang man die Ballade von der „Ogress of Reading“ („Die Kinderfresserin von Reading“):
„The old baby farmer, the wretched Miss Dyer
At the Old Bailey her wages is paid.
In times long ago, we'd 'a' made a big fy-er
And roasted so nicely that wicked old jade.“
„Die alte Baby-Farmerin, die erbärmliche Miss Dyer;
vor den Schranken von Old Bailey bekam sie ihren Lohn.
In ferner Vergangenheit hätten wir ein großes Feuer entzündet
und das böse, alte Weib genüsslich geröstet.“
"Baby Farming: Der Tod fährt reiche Ernte ein" von Dr. Michael Drewniok
Foto London: istock.com/tombaky
Titel-Motiv Kinderwagen: istock.com/Katie_Martynova
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