Treadstone
Serien-Kritik von Jochen König (03.2020) / Titel-Motiv: © NBCUniversal
Jason Bournes kleine TV-Erben
War es früher eher so, dass TV-Serien Kinofilme nach sich zogen (ziemlich erfolgreich: „Star Trek“, hierzulande das beliebte „Raumschiff Enterprise“ und „Kobra übernehmen Sie“ aka „Mission Impossible“. Nicht so gut erwischten es die Adaptionen von „Mit Schirm, Charme und Melone“ („The Avengers“ – bitte nicht verwechseln) und „Simon Templar“, besser bekannt als „The Saint“), ist seit ein paar Jahren ein gegenteiliger Trend auszumachen. Ein frühes Beispiel ist die innovative und nicht nur popkulturell höchst einflussreiche Serie „Buffy – Die Vampirjägerin“, die auf dem gefloppten Kinofilm gleichen Namens beruht. Doch auch Walt Disneys Company schickt ihre Kinostars ins Fernsehen, neben Animationsfilmen bekamen das Marvel-Cinematic-Universe („Agents Of Shield“) und „Star Wars“ („Star Wars Rebels“, „Star Wars: Clone Wars“,„The Mandalorian“) ihre TV-Ableger.
Bruder J., schläfst du noch?
Natürlich wurde auch die Krimiwelt nicht ausgespart. So wurde im Bereich Polit-Thriller Tom Clancys „Jack Ryan“ fürs Fernsehgeschäft aufbereitet, bevor jetzt Robert Ludlums „Jason Bourne“-Reihe folgt. Jedem, der Ludlums Bücher oder den Kinofilmen folgt, dürfte mit dem Begriff „Treadstone“ vertraut sein. Jenem umstrittenen Programm, das (meist weniger) freiwillige Probanden aus Geheimdienstkreisen zu äußerst effektiven Killermaschinen programmiert. Mit einer perfekten Tarnidentität, die deshalb so gut funktioniert, weil sie den Schläfern, beziehungsweise in der Serie „Zikaden“, gar nicht als solche bewusst ist. Die aber, mittels einer bestimmten Codefrequenz, einen treusorgenden Familienvater ansatzlos in eine kaum zu stoppende Tötungsmaschine verwandeln kann.
In der Serie ist der Auslöser der kleine „Frére Jaques“-Kanon. Anscheinend in den USA nicht sonderlich populär, denn sonst könnte man kaum ausschließen, dass sich der Tag der offenen Tür in KiTa oder Schule zum Massaker auswächst. Falls Erzieher oder Musiklehrer den Kinderchor jenes possierliche Liedchen vor versammelter Elternschar, inklusive Zikade, zum Besten geben würden. Nicht das einzige Logikproblem von „Treadstone“.
Von CIA bis KGB – es ist eine verwirrende Welt
Ein anderes, das gleichzeitig den Einstieg in Jason Bournes Welt bedeutet: Was, wenn die ausgefeilte Gehirnwäsche doch nicht ganz rein wäscht und die Probanden von Erinnerungsfetzen oder dem Wunsch, die Tarnexistenz ihrer geheimdienstlichen Bestimmung vorzuziehen, geplagt werden? Sie werden zu Sand im Geheimdienst-Getriebe, zu unliebsamen Störenfrieden, schlussendlich zu Feinden, die es zu eliminieren gilt. Jason Bourne erfährt es, seine kurzzeitige filmische Ablösung ebenfalls. Und erst recht die Protagonist*innen von „Treadstone“. Unsicherheit und Paranoia herrschen überall.
Der Zuschauer nimmt unmittelbar Teil daran. Denn „Treadstone“ bedient sich einer verschachtelten Erzählweise. Fünf Handlungsstränge, sogar mehr, wenn man die Abzweige hinzurechnet, müssen nachverfolgt werden.
Back to Berlin - Mauerparcours
1973 wird der amerikanische Agent J. Randolph Bentley gefangengenommen und in Ost-Berlin einer Gehirnwäsche unterzogen. Sein Leitoffizier ist die junge Petra, mit der ihn mehr als Folter und radikale Umerziehung verbindet. Bentley wird manipuliert, drei weitere Gefangene zu erschießen. Dann gelingt ihm die Flucht. Doch statt mit offenen Armen im Westen empfangen zu werden, findet er sich auf einer Abschussliste wieder, landet zwischen allen Fronten und muss sich unangenehmen Wahrheiten über seine Zeit als unfreiwilliger KGB-Handlanger stellen. Oder steckt eventuell ein Plan hinter dem Plan, der wiederum ganz anderen Plänen folgt. Falltüren unter Falltüren. Überall möglich.
Petra begegnen wir in der Gegenwart wieder. Aufs Abstellgleis geschoben, wird sie zur Hüterin einer Atomrakete degradiert, deren Existenz erst verleugnet, dann zur Bedrohung wird. Hier kommt die britische Journalistin Tara Coleman ins Spiel, deren Recherche (Stichwort „Stiletto Six“) über den Handel mit dieser Rakete zur Diskreditierung und, so lässt sich vermuten, dem Tod einiger Angehöriger führten. Erneut auf den genannten Fall wird sie durch den CIA-Agenten Matt Edwards, auf die Bitte des nordkoreanischen General Kwon, der den Verkauf der Atomrakete an radikale nordkoreanische Militärs verhindern will. Was ihn zum obersten Kandidaten auf einer Todesliste macht.
Nächster Halt: Pjöngjang - dann nach Alaska
Auf Kwon angesetzt wird die Klavierlehrerin SoYun, ebenfalls eine Zikade, wie sollte es anders ein, einmal in Bewegung gesetzt, eine tödliche Waffe. Doch so ganz hat die Wandlung zur gewissenlosen Kampfmaschine nicht funktioniert, die empfindsame junge Frau und Mutter hadert mit ihrer Tarnexistenz und wird zur Jägerin und Gejagten.
Derweil kümmert sich Edwards, zurück in den USA, um den vermeintlichen Amokläufer Stephen Haynes. Der sich als weitere Zikade entpuppt. Edwards Vorgesetzten, inklusive seiner scheinbar loyalen Chefin Ellen, gefällt sein Handeln nicht. Haynes scheint ein Stachel im Fleisch der CIA zu sein, was den integren Matt Edwards ebenfalls zur Gefahr für das mysteriöse „Treadstone“-Projekt werden lässt. Dessen fortwährende Existenz und Präsenz im Bourne-Universum gerne verleugnet wird. Die sichtbaren, zerstörerischen Auswirkungen bezeugen allerdings das Gegenteil.
Dass „Treadstone“ sehr wohl aktiv ist, muss auch Doug McKenna erfahren, der, erst - im Zuge der Globalisierung - seinen Job als Arbeiter auf einer Ölplattform in Alaska verliert, sich dann als Kampfkünstler erweist, um am nächsten Morgen blutverschmiert im Schnee zu erwachen. Nicht sein Blut, keine Erinnerung an die letzte Nacht und nach dem Heimflug die bittere Erkenntnis, dass nichts ist wie zuvor. Nicht seine Erinnerungen, nicht seine Frau Samantha. Doug und Sam begeben sich auf die Suche nach Dougs Selbst und Sams Positionierung im Treadstone-Universum. Es wird keine meditative New Age-Reise. Stattdessen Blut und noch mehr Verwirrung.
Wir düsen im Sauseschritt…
Dies alles erzählt die Serie keineswegs linear, sondern springt bruchlos durch Zeit und Raum. Manche Sequenzen sind nur wenige Minuten lang, andere überschreiten die Viertelstunde. Eine hohe Aufmerksamkeitsspanne ist also nicht von Übel. Zudem nicht nur die Geschichten der genannten Protagonisten abgehandelt werden, zahlreiche Nebenschauplätze und -figuren bevölkern das Set. Plotentwickler und Hauptdrehbuchautor Tim Kring („Crossing Jordan – Pathologin mit Profil“, „Heroes“) hat sich einiges einfallen lassen, um das Publikum in die gleiche Orientierungslosigkeit zu stürzen wie weite Teile des Personals. Das Ganze wirkt wie ein Puzzle, dessen Teile erst allmählich zusammengesetzt werden. Der Reiz des im Dunkeln Tappens verliert sich aber immer wieder, da die Erzählungen zerfasern und die vielen Ortswechsel, stellenweise über Kontinente hinweg, wie der Zimmertausch in einer Groß-WG wirken. Die Hintergründe des Treadstone-Programms bleiben (zunächst) eine Randerscheinung, verbindende Elemente offenbaren sich zwar, doch zu oberflächlich, beiläufig und/oder werden verschleppt. Spätestens mit der abschließenden Folge, die mehr Fragen aufwirft als beantwortet, wird deutlich, dass auf weitere Staffeln spekuliert wird. Bis dahin gilt, wie so oft, weniger wäre mehr gewesen.
Sie sind hinter Dir her: Und Action!
Es gibt Kritiker die behaupten, „Treadstone“ sei eine „ermüdende Abfolge von Nahkampfszenen und Verfolgungsjagden“. Das ist Kokolores. Im Mittelpunkt stehen Paranoia, die Skrupellosigkeit der Geheimdienste (selbst auf diesem Fantasy-Level vermutlich sehr realitätsnah) und die unterschiedlichen Identitätskrisen der Hauptfiguren, denen viel Zeit, Gedanken und Gespräche gewidmet werden. Bevor die Action losgeht. Die wird markant in Szene gesetzt, ist wenig zimperlich (zehn Finger sind Luxus) und phasenweise kinoreif, leider mit einer Vorliebe für hektische Schnitte und zu viele Nahaufnahmen. Tauglich für die große Leinwand sind auch die Schauwerte der unterschiedlichen, weitverstreuten Handlungsorte. Dennoch wäre hier ebenfalls eine stärkere Fokussierung nicht die schlechteste aller Ideen gewesen.
„Treadstone“ ist eine Serie, die einen soliden Unterhaltungswert bietet, aber trotz der höchst dramatischen Personalkonstellationen seltsam oberflächlich bleibt. Obwohl sämtliche Protagonisten, besonders in der Gegenwart, dank beinahe unerschöpflicher Überwachungsmöglichkeiten permanent in Lebensgefahr schweben, macht man sich kaum Sorgen um das Wohlergehen der Zikaden und ihrer Verbündeten. Die Welt in dieser Agentenserie ist eher flach als rund und dreidimensional.
Das hängt zum Teil mit dem Grundproblem des Projektes „Treadstone“ zusammen. So raffiniert es auf den ersten Blick zu sein scheint, als Geheimdienst schier übermenschliche Agenten auf der gesamten Welt zu verteilen, die nicht auffliegen können, weil sie von ihrer Tarnexistenz überhaupt nichts wissen; die aber in entscheidenden Momenten „geweckt“ werden können, um schier unmögliche Aufträge in Windeseile, ohne Rücksicht auf Verluste oder das eigene Leben, zu auszuführen. Leider werden sie mitunter doch enttarnt und zu Doppelagenten umprogrammiert. Die wiederum auch entlarvt werden, um dann als Tripel… - ihr erkennt das Problem. Mehr Chaos als im überfüllten Bällchenbad während eines KiTa-Ausflugs. Dazu gesellen sich noch zwei weitere, ebenfalls dem Programm wenig zuträgliche Faktoren: Erinnerung ans Eigenleben und ein erwachendes Gewissen. Jason Bourne und seine Kurzzeitvertretung Aaron Cross haben es im Kino vorgemacht, im Fernsehen folgt eine ganze Zikadenbrigade. Erfolgsmodelle sehen anders aus.
Vor und hinter der Kamera
Zwei Folgen der Serie inszenierte Brad Anderson, dessen Spezialgebiet, besonders in seinen Kinofilmen, psychische Deformierungen und physische Gewalt ist („Session 9“, „The Machinist“, die Edgar Allan Poe-Interpretation „Stonehurst Asylum“). Ebenfalls auf dem Regiestuhl sitzt für zwei Episoden Salli Richardson-Whitfield, bekannt als Schauspielerin, explizit als Chefin, große Liebe und später Ehefrau von Sheriff Jack Carter aus „Eureka“. Auch dort trieben Geheimdienste ein finsteres Spiel.
Oblag die deutsche Vertretung an der Seite Jason Bournes Franka Potente, übernehmen dies bei „Treadstone“ Emilia Schüle (überzeugend kampfstark) und Gabrielle Scharnitzky, beide in der Rolle der KGB-Agentin Petra. Schüle agiert als „Young Petra“ 1973 und Scharnitzky als deren gegenwärtige, etwas verhärmte, aber ansonsten fast zu wenig gealterte Ausgabe.
Die Schauspielleistungen gehen insgesamt in Ordnung, wobei sich Golden Globe-Aspiranten nicht aufdrängen. Ob man den sprunghaften Stil der Serie mag, der gnadenlos von punktueller Hektik bis zum Stillstand schwenkt, liegt wie so oft im Auge des Betrachters. Technisch ist das alles im Soll, was die multilinguale Sprachkulisse (Untertitel sind quasi Pflicht) und den druckvollen Soundtrack mit einbezieht.
Demnächst auf diesem Fernseher?
Bleibt die Frage, reicht das ganze Gewese, um ein mögliches Interesse an der zweiten Staffel zu schüren? Ist wie ein Aufenthalt im Land Egalien. Es lässt sich dort aushalten, aber Mehrfachtrips an dieses Ziel haben keine hohe Priorität. Eine Chance kann man „Treadstone“ durchaus geben. Vielleicht birgt Staffel 2 gelungene Überraschungen und ein Ausmerzen der bisher begangenen Fehler. Und mit dem Ausmerzen kennt man sich im Bourne-Universum ja ziemlich gut aus.
Cover und Fotos: © NBCUniversal / amazon
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