TV-Serie:
The Widow
Serien-Spezial von Jochen König (05.2019) / Titel-Motiv: © Amazon Prime
Lost in the congo*
Es ist ziemlich offensichtlich, dass sich die Film- und Fernsehlandschaft derzeit vehement verändert, beziehungsweise weiter verändern wird. Weg von vorbestimmten Zeitabläufen, hinaus aus dem traditionellen Lichtspielhaus, in ein Heim, das im besten Fall mit einem hochauflösenden Beamer oder leinwandgroßem 4K-Flatscreen samt passender 5.1. bis 7.1.-Surround-Anlage (oder gibt es mittlerweile noch mehr Kanäle?) Kinoatmosphäre ins Wohnzimmer transportiert. Man kann seine Vorbehalte und Bedenken haben, vor allem, da die üblichen Global Player die Fäden fest in der Hand haben. Zu Amazon und Netflix und den kleineren Verwandten wird sich demnächst noch der Disney-Konzern gesellen, der das enorm erfolgreiche MCU sowie die Star Wars-Saga mit allen Ablegern bündelt. Willkommen in der neuen Medienwelt, der man allerdings auch bescheinigen muss, dass sie enorm viel qualitativ hochwertigen Stoff mit sich bringt. Teils im Kinobereich – Netflix versendet momentan den, mit aktuell rund 700 Millionen Dollar Einspielergebnis, hocherfolgreichen chinesischen Film „The Wandering Earth“ („Die wandernde Erde“) fast beiläufig -, aber vor allem im angespannten TV-Serien-Metier passiert reizvolles.
Die aus dem Vollen schöpfen
So zeichnet Amazon verantwortlich für gelungene Dramedies wie „Mozart In The Jungle“, mit Tabubrüchen und Extremen spielenden Serien wie „Preacher“ und „American Gods“, technisch versierte Actionkost („Into The Badlands“) und ansprechend in Szene gesetzte Krimis, teils basierend auf literarischen Vorlagen, wie Joe Lansdales „Hap & Leonard“ oder Michael Connellys „Bosch“, der mittlerweile in die fünfte Verlängerung geht. Dazu gesellen sich Miniserien mit nicht geringem Anspruch. Eine davon ist „The Widow“, eine britische ITV-Produktion, die als „Prime Video Original“ ausgestrahlt wird.
Eine Rose für Kate Beckinsale
Kate Beckinsale spielt die titelgebende „Witwe“ Georgia Wells, weitab von ihrem Vampirella Latex- und Leder-Image der „Underworld“-Reihe. Sie ist eine geschundene Seele, die erst den plötzlichen Kindstod der dreimonatigen Tochter und dann den Unfalltod ihres Lebensgefährten Will Mason verarbeiten muss. Drei Jahre der Zurückgezogenheit und Trauer, bis Wells durch Zufall einen Nachrichtenclip sieht, der sie vermuten lässt, dass ihr Mann nicht beim Absturz eines Linienflugs im Kongo ums Leben gekommen ist. Sie begibt sich, trotz aller umgebenden Zweifler und mit der Hilfe des ehemaligen Geheimdienstmannes Martin Benson, in die ihr fremde Demokratische Republik Kongo auf die Suche nach Will. Weitere Unterstützung findet sie beim einheimischen Journalisten Emmanuel Kazadi, dessen schwangere Frau sich ebenfalls unter den Opfern des Absturzes befand.
Dieses luxuriöse Leben - auf Kosten anderer
Georgia begibt sich in die Obhut Judith Grays, der Leiterin der Hilfsorganisation DRC AID, für die Will Mason arbeitete. Obwohl auch Gray nicht überzeugt ist vom Überleben Wills, hilft sie Georgia, die sich bald bedroht fühlt und nachhaltig zur Heimreise aufgefordert wird. Das hält sie nicht ab, sich einen Mann namens Hennie Botha genauer unter die Lupe zu nehmen, dessen Bruder angeblich ebenfalls in dem Unglücksflugzeug umgekommen ist. Georgia folgt seinen Spuren und landet so bei einer Coltan-Mine, in der das wertvolle Mineral unter anderem von Kindern abgebaut wird. Coltan wird benötigt zur Fabrikation von Tantal-Elektrolytkondensatoren, ohne die elektronische Geräte, insbesondere Smartphones, kaum auskommen. Um den, abseits gelegenen, Besitz der Coltan-Minen streiten sich Warlords, Milizen, Angehörige der Regierung und geldgierige Gangster. Die Verbindungen der widerstreitenden Beteiligten sind weitreichenden und Georgia hat mit ihrer Suche ein Wespennest in Aufruhr versetzt. Aufgrund der ständig wechselnden Besitzverhältnisse, der Nutzung des erwirtschafteten Gewinnes zu Waffenkäufen der jeweils herrschenden Partei, ist der Handel mit Coltan aus der kongolesischen Republik für zahlreiche Firmen tabu. Weswegen ein weitreichendes Schmuggelnetz nach Ruanda existiert. Von dort lasen sich Geschäfte problemlos abschließen. Die Serie zeigt dies fast im Vorübergehen.
Von Kindern und Tod
Georgia Wells‘ Suche nach Will ist aber nicht der einzige Erzählstrang der achtteiligen Serie. Gleich zu Beginn begegnet der Zuschauer der Kindersoldatin Adidja, der sich ein atemberaubender Blick über den kongolesischen Urwald eröffnet. Doch der ist nur ein Gefängnis für die „Königin der Welt“, in dem sie ihrer Kindheit beraubt wird, um Mordaufträge auszuführen. Natürlich ist von Beginn an klar, dass sich die Wege von Adidja und Georgia auf einschneidende Weise kreuzen werden.
Schwenk nach Rotterdam, wo der blinde Ariel Helgason auf einen Platz in einer experimentellen Behandlung hofft, die ihm sein Augenlicht wiedergeben soll. Wie sich bald herausstellt, hat Ariel den Absturz im Kongo schwer verletzt und erblindet überlebt, ist durch puren Zufall durchs engmaschige Informationsnetz gerutscht und vom Radar verschwunden. Denn er weiß um die wirkliche Ursache des Absturzes, der natürlich kein Unfall war wie es von den Medien verbreitet wird. Die Begegnung mit der ebenfalls blinden Beatrix führt dazu, dass er sich den Dämonen seiner Vergangenheit stellt und in Charles Begleitung zur Klärung des komplexen Falles beiträgt.
Eine vernetzte Welt
Zu Beginn der achten und letzten Folge wird höchst effektiv gezeigt wie Globalisierung funktioniert. Wortlos zu den Klängen von Wreckless Erics „The Whole Wild World“ wird der Weg gezeigt, den das Coltan nimmt: Kinder, Jugendliche und Erwachsene durchpflügen mühevoll, unter den Augen bewaffneter Aufseher, matschige Minen und sammeln das Mineral, bevor es zu Zwischenhändlern gebracht wird. Von dort wird es zur Reinigung, Sortierung und Vorverarbeitung geliefert, ehe das Material in aseptischen (Europäischen) Technikzentren landet, um dort seine endgültige Bestimmung auf der Platine eines Smartphones zu finden. Selbst für tumbe Populisten wird anschaulich demonstriert, warum nationalistisches Inseldenken nicht mehr funktioniert. Diese Welt ist auf vielfältige Weise vernetzt, und unsere technologischen Errungenschaften – und die Möglichkeiten diese zu missbrauchen – wachsen nicht innerhalb von Grenzen, die längst überwunden schienen.
Kein „Taken“ im Kongo
„The Widow“ baut diesen politischen Diskurs keineswegs im belehrenden Telekolleg-Modus ein, sondern schildert ihn kompakt eingebunden in eine verzweigte Geschichte, in der Betrachtungen der Aufweichung von Ethik und Moral einen erheblichen Teil der Dramaturgie darstellt. Georgia Wells ist ein lauterer Charakter, was mitunter allzu plakativ zur Schau gestellt wird, die sich durch einen Wust von neuen Erfahrungen, Enttäuschungen, Verrat und mörderischen Hinterhalten ackern muss, auf der Suche nach ihrem vermeintlich toten Lebensgefährten. Dass sie einen Hintergrund als Soldatin bekommt, macht nachvollziehbar, dass sie sich im Umgang mit Waffen auskennt, führt aber nicht dazu, Georgia als weibliche Liam Neeson-Variante zu etablieren, die sich radikal durch die Demokratische Republik Kongo metzelt. Etwas, dass man bei Kate Beckinsales Actionfilm-Hintergrund durchaus hätte erwägen können. Doch das fällt aus, Beckinsale überzeugt durch zurückhaltendes, differenziertes und nahezu ungeschminktes Spiel. Jeder Gewaltakt erschüttert sie sichtlich.
Starkes Schauspiel
Darstellerisch ist „The Widow“ per se eine überzeugende Angelegenheit. Charles Dance leistet seine Arbeit als Martin Benson mit gewohnt lässiger Bravour, Ólafur Darri Ólafsson zeigt als wankelmütiges, mit der eigenen Feigheit kämpfendes Opfer Ariel Helgason seine schauspielerische Vielfältigkeit (der fanatische Amish aus „Banshee“ ist kaum wiederzuerkennen, der verunsicherte Polizist aus „Trapped - Gefangen in Island“ schon eher). Alex „River Song“ Kingston darf ungewohnt ambivalent und verletzlich agieren. Ein Highlight liefert Babs Olusanmokun als mörderischer General Azikiwe, der von den Geistern seiner Opfer heimgesucht wird. Er ist weniger politischer Ränkeschmied als bedingungsloser Profiteur, der von den Konsequenzen seiner Taten eingeholt wird.
Eine Entdeckung ist Shalom Nyandiko in der Rolle der Adidja, die einen starken Eindruck hinterlässt, egal ob sie als gepeinigte Kindersoldatin oder hoffnungsvoller Teenager auftritt. Was umso höher zu bewerten ist, da sie sich durch ein paar höchst schnulzige Dialogzeilen quälen muss. Schauspielerische Ausfälle gibt es insgesamt nicht zu beklagen.
Ruhe und Kraft
„The Widow“ ist keine Serie, die von vorn bis hinten auf Krawall gebürstet ist. Sie lässt sich Zeit für Charakterentwicklungen und versucht der Komplexität ihrer Geschichte(n) gerecht zu werden. Die Spannung steigert sich langsam, Actionsequenzen werden sparsam und effizient eingesetzt, um anschließend wieder in ruhigere Bahnen zurückzukehren. Manchmal wird sich bewusst für einen Anti-Climax entschieden (Ariels Schicksal), was umso nachhaltiger verstört.
Das Drehbuch zu „The Widow“ stammt von den Brüdern Jack und Harry Williams, versierte Autoren, die unter anderem die Vorlagen für die beiden Staffeln der ebenfalls empfehlenswerten und recht ähnlich gelagerten Serie „The Missing“ lieferten. Charakterzeichnungen und Handlungsentwicklung sind stimmig und vermitteln die stoffliche Relevanz publikumswirksam, ohne zu didaktisch zu wirken. Georgia Wells ist kein „White Saviour“, der Vorwurf wurde an anderer Stelle laut, sie ist in eigener Mission unterwegs, nicht unbedarft, aber keineswegs darauf vorbereitet, was sie in einem ausgebeuteten Land mit einer durch und durch korrumpierten Gesellschaft erwartet. Sie wird zur Reiseführerin auf einem erschütternden Trip, der den Blick freigibt auf zerstörte Landstriche, gnadenlose Täter und ihre zahlreichen Opfer. Und ob Georgia Adidja rettet oder nicht der Umkehrschluss der Fall ist, bleibt ambivalent.
Ein paar Abstriche…
Einige Zugeständnisse an das Konsensmedium Fernsehen muss man allerdings hinnehmen. Die wahre Situation um die brutale Ausbeutung von Land und Menschen dürfte in der Realität noch weit schlimmer sein als in der Serie bereits gezeigt, die Wandlung Adidjas von der zum Morden missbrauchten und traumatisierten Kindersoldatin zur aufgeweckten Teenagerin, die sich eine neue Welt erschließt, geht arg harmonisierend vonstatten und auch die abschließende Wirkung des öffentlichen Aufschreis spielt offensiv mit der Sehnsucht nach einem Happy End, und erzeugt filmisch deutlich mehr Wirkung als abseits von gescripteter Parallelwelt erwartet werden darf. Leider. Schmerzhaft genug ist „The Widow“ dennoch, und wir können die kleinen Hoffnungsschimmer als fromme Lüge hinnehmen.
… und ein sehr positives Fazit
Denn im Großen und Ganzen ist die Miniserie ein packendes Kriminalstück, dass seine dramaturgische Kraft unter anderem aus dem genauen und ernsthaften Blick auf gesellschaftliche Realitäten bezieht. Gestützt durch eine stimmige audiovisuelle Umsetzung und eine kompetent aufspielende Besetzung, in der selbst Stereotypen (Pieter Bello, General Azikiwe) genug eigene Facetten bekommen, um zu überzeugen. Gedreht wurde übrigens in Südafrika und nicht im Kongo.
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* „Dig Up the Conjo“ von Blondie
Cover und Fotos: © Amazon Prime
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