Equinox

Serien-Spezial von Jochen König (04.2021) / Titel-Motiv: © Tine Harden / Netflix

Eine Welt in Auflösung

Wer die Pilotfolge einer Serie „Es wird wieder passieren“ nennt, weiß, dass er in große Fußstapfen tritt. Doch die von „Twin Peaks“ kann „Equinox“ nicht ausfüllen. Was aber nicht heißt, dass die dänische Produktion, basierend auf der Podcastreihe „Equinox 1985“ von Drehbuchautorin Tea Lindburg, ein Reinfall ist. Im Gegensatz zum Leben, laut einer Aussage der 17-jährigen Ida während der Festivität zu ihrem Schulabschluss.

Sie sagt dies zu ihrer neunjährigen Schwester Astrid, im Jahr 1999. Kurze Zeit später ist Ida verschwunden. Mitsamt ihrer Klasse. Auf einer Leiterwagenfahrt lösen sich die Jugendlichen buchstäblich in Luft auf. Und tauchen nicht wieder auf. Übrig bleiben nur der Chauffeur sowie die drei besten Freunde Idas, Jakob, Amelia und Falke werden verschont. Und hüllen sich in Schweigen.

Gefangen zwischen Gestern und Heute

21 Jahre später erhält Astrid, mittlerweile Radiomoderatorin, während einer Sendung einen mysteriösen Anruf Jakobs, der behauptet, dass „es wieder geschehen wird“.  Astrid, die in ihrer Kindheit von Visionen über Idas Verschwinden geplagt wurde, mental nicht die stabilste, wirft der Anruf aus der Bahn und sie begibt sich auf eine Reise weit in die eigene Vergangenheit, anfänglich notdürftig als Reportage getarnt.

Je tiefer sie gräbt, umso unsicherer wird das Gelände, selbst die eigene Biographie wird in Frage gestellt. Ein Netzwerk voller Lügen, Mutmaßungen und einem so charismatischen wie perfiden Reiseleiter in das Labyrinth eines Kultes, der Frühlingsgöttin Ostara (mit unklarem Herkunftsnachweis) gewidmet. Am Ende können Astrid und die Zuschauer kaum noch zwischen Realität und Halluziniertem unterscheiden. Das Finale ist atmosphärisch stimmig, lässt aber etliche Fragen offen, die ziemlich offensichtlich auf eine mögliche zweite Staffel verweisen.

Wahn und Wirklichkeit – ein ständiger Kampf

Der dänische Sechsteiler ist ein Mysterythriller, der ohne explizite Gewaltdarstellungen auskommt. Stattdessen wird viel auf die zerstörerische Kraft der Psyche gesetzt.  Denn obwohl (scheinbar) Übernatürliches peu à peu Einzug hält in Astrids langwährende Ermittlung, bleibt bis zum halluzinierenden Schluss offen, ob Astrid sich die Begebnisse nicht nur herbei imaginiert, da sie den Verlust der Schwester nie überwunden hat.

Die konsequente Beibehaltung der Erzählperspektive lässt die Menschen in Astrids Umfeld bedrohlich erscheinen, wenn sie versuchen ihre Träume von einer Höhle, in der Ida verborgen scheint, medikamentös zu unterbinden und sogar vor einer Einweisung in die Psychiatrie nicht zurückschrecken.

Für Astrid ist der Ostara-Kult, der sich hinter dem Verschwinden von Ida und ihren Klassenkameraden steht, nur allzu real, und die Hindernisse, bitteren Erkenntnisse und (selbstverursachten) Todesfälle am Wegesrand scheinen Astrids Visionen und Sichtweise zu bestätigen. Es bleibt dem Publikum überlassen, welche Lesart es wählt.

Zurück in die Gegenwart

Mitunter etwas willkürlich switcht „Equinox“ zwischen Gegenwart und dem Jahr 1999. Allerdings ohne den Erzählfluss je komplett zu zerstören. In der Vergangenheit verfolgen wir den Weg von Ida und ihren drei besten Freunden. Scheinbar aus der Sicht Idas, doch auch hier bleibt offen inwieweit das Geschilderte durch Astrid eingefärbt ist.

„Equinox“ hält seine latente, untergründige, manchmal ins Bedrohliche kippende Spannung über seine Laufzeit ordentlich aufrecht. Nervenzerrend wird es allerdings selten. Das liegt auch an der etwas biederen – dennoch stimmungsvollen - Gestaltung, die selten TV-Format verlässt. Deshalb unterlässt man besser einen Vergleich mit Ari Asters thematisch ähnlich gearteten audiovisuellen Meisterwerk „Midsommar“.

Ein positives Fazit mit kleinen Abstrichen

Tut aber auch nicht Not, denn „Equinox“ bietet für zwei bis drei Abende, nicht nur in pandemischen Zeiten, ansprechende und sattsam dramatische Unterhaltung mit talentierten Darsteller*innen und genügend herausfordernder Qualität, um ein bisschen Weiterdenken der Geschichte zu ermöglichen. Vorspann und Soundtrack besitzen sogar kinotaugliche Qualitäten.

Cover und Fotos: © Tine Harden / Netflix

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