Inside
Film-Kritik von Sabine Bongenberg (10.2023)
Die einsamste Insel der Welt - mitten in New York
Es sollte ein recht einfacher Job werden: In das Penhouse eindringen, die besten Werke schnappen und aus dem Penthouse wieder raus. Fertig. Aber dann läuft es nicht rund. Es fängt damit an, dass das wertvollste Stück nicht da ist - das Selbstportrait, das Millionen gebracht hätte. Aus welchem Grund es verschwand, das weiß unser Meisterdieb natürlich nicht. Also heißt es, das nehmen, was da ist und raus aus dem Laden! Da ist es auch schon passiert: Ein Alarm wird ausgelöst und damit nicht genug, riegelt sich das Penthouse von selbst ab. Dicke Panzerriegel, massive Versiegelungen, kein Handy, kein Funk - die ganze Klaviatur. Mittendrin sitzt er jetzt - Nemo, der Dieb, der es nicht mehr rausgeschafft hat. Irgendwo mitten in New York und keiner scheint ihn zu vermissen…
Welche Insel ist die einsamste?
Es gibt ja nun einige Filme über das Überleben eines Einzelnen. Sicherlich kann man hier "Cast away" mit Tom Hanks als bestes Beispiel heranziehen. Nach einem Flugzeugabsturz kämpfte er auf einer - immerhin karibischen - Insel ums Überleben. In diesem Film ist Willem Dafoe der Gestrandete - mitten in der Großstadt unter Millionen von Menschen. Man kann sich hier fragen, was das Einsamere von den beiden ist: Das Überleben auf einem abgeschiedenen Eiland, fernab jeglicher Zivilisation, oder das Weggeschlossen sein innerhalb der Zivilisation, die man aus der Ferne oder per Video beobachten - aber nicht erreichen kann.
Willem Dafoe verkörpert hier den Protagonisten, der den Namen "Nemo" - also "Niemand" - trägt. Viel erfährt der Betrachter nicht von ihm. Nemo erzählt in der Einleitung aus dem Off, dass er, als er in der Schule gefragt wurde, welche Dinge er auf eine einsame Insel mitnehmen wollte, sein Skizzenbuch, seine Katze und ein ACDC-Album nannte. Erst später fiel ihm auf, dass offensichtlich keiner seiner Familienangehörigen auf der Liste stand. Das allerdings ist dann auch das Einzige, was der Zuschauer an persönlichen Dingen erfährt. Offensichtlich ist Nemo aber ein sorgfältig arbeitender, hochspezialisierter Kunstdieb, der handwerklich und künstlerisch nicht unanstellig ist und sich schnell in das Unvermeidliche fügt.
Die Zuschauer sehen Willem Dafoe dabei zu, wie er mitten in New York seinen eigenen Überlebenskampf führen muss. In der modern eingerichteten Wohnung gibt es nur wenige Lebensmittel, das Wasser ist abgestellt und als einzige, lebendige Elemente ziehen ein paar Kaiserfische durch ein - natürlich - Salzwasser Aquarium ihre Bahnen. Dafoe, ohnehin nicht gerade wohlgenährt, verfällt hier genauso schnell, wie die elegante Wohnung. Wir erleben alsbald einen abgemagerten Mann, der mit brennenden Augen vor dem Balkon hockt und mit einer verletzten Taube spricht, die ihm genauso viel weiterhelfen kann, wie weiland Hanks Volleyball "Wilson".
Natürlich sind die Dialoge auf das absolute Minimum reduziert. Nemo unterhält sich mit Hausangestellten, die von der Kamera aufgezeichnet werden, preist vor einem unsichtbaren Publikum seine Pasta Spezialitäten an ("Zwölf Stunden im Salzwasser einweichen und sie sind al dente") und bringt den Zuschauer immerhin zum Schmunzeln, wenn er die "Macarena" tanzt, denn die wird als Warnsignal geschaltet, wenn der Kühlschrank zu lange offen steht. Auf wenige Klaviertöne beschränkt ist dagegen die Filmmusik, die nicht dazu beiträgt, die beklemmende Stimmung aufzulösen. "Inside" ist kein Film, den man sich mit Freunden ansieht, anschließend fröhlich eine Kneipe stürmt und seine Lieblingsszenen erzählt.
Manchmal fragt man sich allerdings auch, ob hier eine besondere Hölle für Nemo initiiert wurde. So liefert der ultramoderne Flachbild-Fernseher zwar Sportreportagen, doch sind diese derart verzerrt, dass es eine Quälerei ist, nur dabei zuzusehen. Deutlich sind dagegen die Überwachungsvideos des oft leeren Hauses mit seinen wenigen steril wirkenden Bewohnern. Natürlich werden diese Bilder ohne Ton geliefert - eine Möglichkeit der Kommunikation ist auch hier ausgeschlossen. Fraglich auch, ob außer der Tageszeit und ein bisschen Smalltalk überhaupt etwas mit ein wenig Tiefgang besprochen wird...
Der großartige Willem Dafoe
Dennoch und bei aller Herabgesetztheit schafft es Willem Dafoe mit seinem auf das wesentliche reduzierten Helden die Leinwand zu füllen. Er spielt denjenigen, der sich tatsächlich unbeobachtet fühlt und manchmal ist das schon schmerzlich mit anzusehen - so als er sich das letzte Eis aus dem Tiefkühlfach kratzt und es gierig verschlingt. Als Nemo beginnt, in den Wahnsinn abzugleiten, der bei einer solchen Einzelhaft unmittelbar im Gefolge der Einsamkeit anrücken muss, entwickelt er auch seine besondere, eindringliche Überlebensstrategie. Es ist die Liebe zur Kunst, die ihn seinerzeit als Kind als erstes sein Skizzenbuch wählen ließ und die ihn hier auch möglicherweise davor bewahrt, einfach alles hinzuschmeißen und auf einen gnädigen Tod zu warten. "Inside" zeigt, wie Kunst in einem ungewöhnlichen, in einem schmerzhaften Prozess geschaffen werden kann: Einerseits als Wandgemälde, andererseits als Skulptur, auch wenn diese noch einen praktischen Zweck erfüllen muss.
Lange Zeit kann der Zuschauer darüber nachdenken, wie "Inside" denn nun tatsächlich enden wird. Werden endlich Nemos Komplizen zu seiner Rettung anrücken? Steht unvermittelt der Wohnungseigentümer in seiner abgerockten Hütte und kann es nicht fassen? Wird Nemo kläglich in einer Ecke verrecken? Sicher kann man sich denken, dass hier auch keine einfache oder offensichtliche Lösung angeboten wird. Die Auflösung erinnert so auch ein wenig an einen weiteren Einsamen auf dem großen Meer, nämlich an Robert Redfort in "All is lost".
Fazit
Die möglicherweise verlassenste Insel der Menschheit mit ihrem verzweifelten, hageren Helden Willem Dafoe zeigt seinen einsamen Überlebenskampf - inmitten von Kunst und Luxus. Natürlich wird hier kein Actionfilm erzählt, dennoch schafft es Willem Dafoe den Zuschauer in seinen eigenen eindringlichen Rhythmus zu ziehen.
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