Die Brücke
Gesamtedition
Serien-Spezial von Jochen König (11.2019) / Titel-Motiv: © Edel Motion/Glücksstern
Lohnenswertes Stück Fernsehgeschichte
Folgerichtig endet es nach vier Staffeln dort, wo alles seinen Anfang nahm: Auf der titelgebenden Öresundbrücke, die das schwedische Malmö mit der dänischen Hauptstadt Kopenhagen verbindet. Wir nehmen Abschied von Kriminalkommissarin Saga Norén, die vor einem neuen Lebensabschnitt steht. Ein Umbruch, der der Polizistin mit dem Asperger-Syndrom schwerfällt. Wie zuvor die vorläufige Trennung von ihrem dänischen Partner Henrik Sabroe, der über zwei Staffeln mehr wurde als nur ein guter Freund.
Über reine Kollegialität ging auch das Verhältnis zu Martin Rohde, ihrem ersten Kollegen auf dänischer Seite, hinaus. Ihn am Ende als Freund zu bezeichnen, fiel der Beziehungs-Phobikerin schwer. Ein schmerzhaftes Bekenntnis, bedingt durch die Tatsache, dass Saga maßgeblich an Rohdes Ausscheiden nach zwei Staffeln beteiligt war. Die Crux und größte Angst der schwedischen Polizistin: Wenn sie sich Menschen öffnet und ihre Nähe akzeptiert, wird sie verlassen.
Saga Noréns Schwäche ist gleichzeitig ihre größte Stärke als Ermittlerin: Da sie Emotionen nur schwer gefühlsmäßig versteht, interpretiert ihr analytischer Verstand menschliche Verhaltensweisen rational und mit den Mitteln der Logik. Verbunden mit einem enormen Wissenstand – „Wiki“ nennt Henrik Sabroe Saga zwischen Anerkennung und mildem Spott – führt das einerseits sehr effektiv zu erstaunlichen Ermittlungsergebnissen, anderseits zu Irritationen bei ihren Mitmenschen.
„Wie alt ist es?“ [Das Kleinkind, dass der überraschten und abwehrbereiten Saga in die Arme gedrückt wird]
„Fast sieben Monate“.
„Wie groß ist es?“ [Ein weiterer unbeholfener, verzweifelter Versuch in Konversation] „Gab es einen Dammriss?“
„Wie bitte?“
„Ihre Frau – bei der Geburt: Hatte sie Risse im Unterleib? War es eine Vaginalgeburt?“
„Ja, war es … das weiß ich nicht.“
„Und wer ist der Vater?“
„Na, ich!“
„Nein, sind sie nicht.“
„Was, wie meinen Sie das?“
„Na, das Kind hat braune Augen, und sie beide blaue. Es ist genetisch unmöglich, dass Sie der Vater des Kindes sind.“
[So hebelt Saga mit Freundlichkeit und ohne Hintergedanken ein scheinbares Familienidyll aus]
„Das war dumm?“ [Saga lernt dazu]
„Ja, die waren jetzt nicht SO begeistert“.
Saga Norén beherrscht es ohne Arg sehr gut, ihre Mitmenschen vor den Kopf zu stoßen. Das bringt oft unerwartete Erkenntnisse hervor, schürt aber auch Widerstand. Da Norén es sich nicht nehmen lassen kann, Ermittlungen komplett abzufertigen, übernimmt sie auch Trauergespräche und das Überbringen von Todesnachrichten. Hier begeht „Die Brücke“ jenen Fehler, der ansonsten vermieden wird, und der andere skandinavische Werke zum Ärgernis werden lässt (wie die von Chefautor Hans Rosenfeldt mitverfasste Reihe um den Kriminalpsychologen Sebastian Bergmann): Sagas psychische Dissonanz wird zum Stichwortgeber für Effektgehasche und schnöde Gags. Inkonsequenterweise werden Saga und die betroffenen Mitmenschen nicht von ihrem sonst so fürsorglichen – und um Noréns Hochbegabung wie Handicaps wissenden – Chef Hans geschützt.
Der dänische Kommissar Martin Rohde braucht einige Zeit, bis er sich an die Marotten seiner schwedischen Kollegin gewöhnt hat. Dann wird er aber, bis zum Finale der zweiten Staffel, zum wichtigen Ratgeber in Lebensdingen für Saga. Dabei startet die Freundschaft der beiden mit einem Affront. Denn die erste Begegnung auf der Mitte der Öresundbrücke, angesichts eines zerteilten weiblichen Leichnams, führt zu einer Dienstbeschwerde Sagas, da Rohde einen Krankenwagen passieren lässt. Während die korrekte Saga ihn aufgehalten hätte, um den Tatort nicht zu kontaminieren. Letztlich markiert diese Aktion den Beginn einer innigen Arbeitsbeziehung, denn Martin Rohde weiß schon früh, was an Saga Norèns Seite auf ihn zukommt. Was er nicht ahnt ist, wie tief er in den Fall involviert ist, der mit den paritätisch auf Schweden und Dänemark verteilten Körperhälften beginnt. Die sich bald als Leichenteile zweier unterschiedlicher Frauen entpuppen.
Ein Kennzeichen der Serie: Nahezu alles, was selbst beiläufig passiert, hat mit den Ermittlungen zu tun. So werden die Insassen des Krankenwagens im weiteren Verlauf eine wichtige Rolle spielen. Bei der Saga schlechte Karten besitzt und Martin zu gute. In den ersten beiden Staffeln funktioniert diese Verfahrensweise sehr ansehnlich, in der dritten und vierten Staffel häufen sich die Abstrusitäten. Logik und Wahrscheinlichkeit werden auf harte Proben gestellt, die sie nicht immer bestehen.
Doch zunächst müssen sich die schwedischen und dänischen Partner in Verbrechensbekämpfung zusammenraufen, um einen mehrfachen perfiden Mörder dingfest zu machen. Und auch das wird sich durch die gesamte Serie ziehen: Meist stehen die Verbrechen in enger Beziehung zu den Protagonisten. So wird jede Ermittlung zur Belastungsprobe, die nicht jeder Beteiligte unbeschadet übersteht. Das ist ansprechend düster und konsequent inszeniert und verliert sich meist nicht in marktschreierischer Beliebigkeit.
Während in der ersten Staffel Martin Rohdes Leben aus den Fugen gerät, zeichnet sich in der zweiten Runde eine globale Bedrohung ab. Ein Jahr nach den mörderischen Ereignissen oben auf der Öresundbrücke, kollidiert unten ein Schiff mit einem Pfeiler. An Bord befinden sich fünf tote Jugendliche, die an Lungenpest gestorben sind. Es wird weitere Opfer geben, Bekennervideos tauchen auf, ein klarer Fall von Ökoterrorismus. Oder doch nicht?
Wie schon gewohnt wird die Geschichte einige widerborstige Haken schlagen und im Verlauf eine überraschende Entwicklung nehmen. Die man, mit ein bisschen Genrekenntnis, dennoch in weiten Teilen vorausahnen kann. Das ist, von den bekannten Logikmängeln abgesehen, wieder stimmig und spannend in Szene gesetzt. Für gelungene Komik, die die Tragik hinter dem Witz nie verhehlt, sorgt Sagas beinahe verzweifelter Versuch, eine Zweierbeziehung aufzubauen. Ihre Ticks, individuellen Bedürfnisse, Limitationen und ganz eigenen Denkungsweisen, stellen wieder einmal Stolpersteine dar. Das wird plausibel erzählt und ist von Sofia Helin einmal mehr großartig gespielt.
Martin Rohde hingegen verliert sich in Gesprächen mit einem Inhaftierten und trifft zum Ende der Staffel einen folgenschweren Entschluss, der zwangsläufig zu seinem Abschied aus der Serie führt. Die unbeirrbare Saga Norén sitzt erneut zwischen allen Stühlen, bekennt sich aber, trotz scheinbar gegenteiliger Handlung, zu Martin in Freundschaft. Nutzt nicht viel.
Martin Rohdes Abwesenheit führt über eine folgenschwer endende Kurzzeitpartnerschaft mit der unwilligen Hanne Thomsen zu Henrik Sabroe, der „Die Brücke“ personell bereichert. Thure Lindhardt schließt darstellerisch überzeugend zu Kim Bodnia und Sofia Helin auf. In der Beziehung zu Saga bekommt Henrik sogar einen stärkeren Part als sein Vorgänger, denn aus den beiden Polizisten, die mit unterschiedlichen Traumata zu kämpfen haben, entsteht eine wechselhafte Liebschaft, die mit Sagas unverkrampft offener Lust auf Sex beginnt. Später entsteht weit mehr daraus als eine lustbetonte Liaison. Saga hilft Henrik dabei, den offenen Fall um das acht Jahre zurück liegende Verschwinden seiner Frau und der beiden Töchter zu lösen, während Henrik Saga unterstützt, als sie im Zusammenhang mit dem Auftauchen ihrer dominanten und perfiden Mutter geistig und körperlich in die Bredouille gerät.
Die Suche nach Henrik Sarboes Familie ist ein wichtiger Nebenstrang, der sich durch die abschließenden Folgen zieht. Sagas psychotische Mutter, die sie einst mit einer falschen Anschuldigung ins Gefängnis schickte (wie auch ihren Vater) bringt die Polizistin in der dritten Staffel in Bedrängnis. Erneut eine schauspielerische Glanzleistung von Sofia Helin, die in sich zusammenfällt, sobald sie ihrer Mutter gegenübersteht. Um zutiefst erschüttert zu wirken, benötigt Helin keine großen Gesten. Ebenso wenig ihr Pendant Ann Petrén, die in der Mutterrolle eine latente Bedrohlichkeit ausstrahlt, die sie hinter heimtückischer Freundlichkeit verbirgt („Schau mich an, wenn Du mit mir sprichst!“). Höchst gelungenes Psycho-Drama.
Wieder ist die dritte Staffel wie ein großes Puzzle angelegt. Morde werden begangen und Tatorte inszeniert, unterschiedliche Personen werden vorgestellt und bekommen eigene Geschichten. Es dauert bis zum Schlussdrittel ehe sich herauskristallisiert wie das Personenkarussell und die brutalen Mordtaten zusammengehören. Das wird sehr atmosphärisch, spannend und voller makabrer Tableaus inszeniert, die Auflösung ist einigermaßen stimmig, aber die mitunter unfertig wirkende Dramaturgie fordert viel Großmut vom aufmerksamen Zuschauer. Dass das Publikum den Ermittlern vorauseilt, kann passieren, dass die akribische Saga gleich dreimal während einer Ermittlung grob fahrlässig patzt, ist selbst angesichts ihrer mentalen Ausnahmesituation bezüglich des mütterlichen Überfalls, kaum nachzuvollziehen. Explizit nicht bei wiederholten Anfängerfehlern, die die Autor*innen Saga unterschieben (keine Überprüfung auf zweites Handy und schlimmer noch: Waffenbesitz).
Das wird in der abschließenden, verkürzten vierten Staffel kaum besser, eine Rachegeschichte wird rüde, mit einem erwartbaren (aber konsequent durchgezogenen) Knalleffekt zum Abschluss, durchgezogen. Der zweite Erzählstrang um Henrik Sarboes vermisste Ehefrau und Kinder, der gelegentlich mit dem Hauptplot kollidiert, funktioniert besser und ergreifender. Vorherrschend und ebenfalls eindrücklich sind die Oberthemen der Serie eingebettet: Verlustangst, der verzweifelte Kampf um Nähe sowie diverse Aufstellungen zum vorherrschenden Terminus Familie. Desaströse Strukturen, Entzweiung, Unverständnis und dunkle Obsessionen stehen tiefer Zuneigung, Vertrauen und der Sehnsucht nach einem harmonischen Miteinander gegenüber. Doch nicht einmal die letztgenannten Punkte sind durchweg positiv konnotiert. So ist das im Noir. Und im richtigen Leben.
Das handlungstechnische Beiwerk kann man getrost vernachlässigen. Das Finale der „Brücke“ ist eine große Saga Norén- und Henrik Sabroe-Show. Sofia Helin und Thure Lindquist spielen grandios auf. Unterstützt von einem starken Ensemble werden die vorhandenen inhaltlichen Makel mit Verve überspielt. Die letzte Einstellung entlässt die überlebenden Beteiligten in eine offene Zukunft.
„Die Brücke“ ist nicht der erste Scandi- oder Nordic-Noir, aber einer der einflussreichsten. Die aufgesplitterte Erzählweise, ein erlesener Soundtrack (mit dem intensiv nachwirkenden „Hollow Talk“ der Choir Of Young Believers als Titelsong), der inszenatorische Kniff, Panoramaaufnahmen im langsamen Überflugmodus (hier von Malmö bis Kopenhagen) als Zäsuren bei Szenenwechseln einzusetzen, wird vielfach auch andernorts angewandt, ebenso der Einsatz diverser Blau- und Grünfilter.
In Nebenrollen finden sich etliche Darsteller, die in weiteren, ähnlich gelagerten Serien in gewichtigen Rollen auftauchen. So geben sich unter anderem Julia Ragnarsson („Springflut“), Adam Pålsson („Hanna Svensson“), Magnus Krepper („Erik Winter“), Tova Magnusson („Greyzone“) und Dag Malmberg („Springflut“, „Stockholm Requiem“) die Ehre.
Die Öresundbrücke veränderte im Lauf der Drehzeit ihren Charakter. War sie zunächst ein verbindendes Element, dass die Fahrzeit zwischen Dänemark und Schweden verkürzte und das Pendeln erleichterte, wurde sie ab Dezember 2015 zum Symbol der Trennung. Mit steigenden Flüchtlingszahlen wurden von schwedischer Seite aus Grenzkontrollen eingeführt. Aus einem weltoffenen wurde ein geschlossenes System. Fast ein Sinnbild für Europa in Zeiten der Migration. Thematischen Niederschlag findet diese Veränderung durch die Episode um den tatverdächtigen homosexuellen Iraner Taariq Shirazi, der vor seiner Abschiebung steht. In seinem Herkunftsland erwartet ihn ein ungewisses, möglicherweise tödliches Schicksal. Angst und Ausweglosigkeit treiben ihn zu einer Verzweiflungstat an einer Zollstation.
Die Verschlechterung der Umstände wird zudem in den Interviews der Bonus-Sektion von den Beteiligten so kritisch wie traurig angemerkt. Martin Rohde-Darsteller Kim Bednia äußerte sich im Gespräch mit dem israelischen Online-Fernsehsender Walla, dass sein Ausstieg auch mit dem wachsenden Antisemitismus in der Öresund-Region zusammenhing. Er fühlte sich als Jude insbesondere in Malmö nicht mehr sicher.
Neuer Fakt, vier Jahre später: Dänemark verschärft die Grenzkontrollen. Vorgeblich, um sich vor dem Überschwappen der schwedischen Banden-/Clankriminalität abzuschotten. Thema für eine neue Serienschöpfung?
Mit der vierten Staffel zu enden war eine gute Entscheidung der Produzenten und Schöpfer der Serie. Sich immer neue Möglichkeiten auszudenken wie man die Polizeikräfte zweier Länder zusammenarbeiten lassen kann, wirkte bereits in Staffel zwei angestrengt. Denn der Auftakt ließ vermuten, dass diese Art der Kooperation einen Ausnahmefall darstellt, der nur dadurch zustande kam, dass die zerstückelte Leiche bewusst auf der Grenzlinie der Brücke (mit erheblichem Aufwand) deponiert wurde. Dass das Konzept über die gesamte Laufzeit funktionierte lag an der ambitionierten Schauspielerriege, der ausgefeilten Bildgestaltung und an Drehbüchern, die neben aller Dramatik, der Darstellung psychischer und physischer Deformierungen, auch das Komische als Teil der düsteren Tragödie nicht vergaßen.
Trotz wahrnehmbarer Schwächen ist „Die Brücke“ ein lohnenswertes Stück Fernsehgeschichte. Zum Ende fein aufbereitet in einer Gesamtedition, die neben der Hauptattraktion auch einiges an aufschlussreichen Zusatzinfos bietet.
Wer mehr will, der kann gerne zur amerikanischen Adaption mit Diane Kruger und Demian Bachir hinüberschwenken, die das vertrackte Geschehen an die amerikanisch-mexikanische Grenze verlegt und eine eigene, ebenfalls treffliche, Interpretation abliefert. Mittlerweile fast ein Kommentar zur Zeitgeschichte. In den USA war allerdings, mangels Zuschauerinteresse, bereits nach zwei Staffeln Schluss. Showbiz ist ein hartes Geschäft. Und (nicht nur) in den USA gilt: Quote vor Qualität. Immerhin bleiben rund 60 Stunden Grenzerfahrungen.
Die Brücke - Gesamtedition
Bonus-DVD 1:
„Hinter den Kulissen von Die Brücke“ mit umfangreichen, spannenden Einblicken in die Entstehung der Serie
Bonus-DVD 2:
„Nordic Noir – Die Erfolgsgeschichte skandinavischer Serien“, eine einstündige Dokumentation über das Nordic-Noir-Genre
+ Die Öresundbrücke als Schlüsselanhänger [ganz wichtig!]
+ Booklet mit Wissenswertem rund um die Serie
Cover und Fotos: © Edel Motion/Glücksstern
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