Arctic Circle
Serien-Kritik von Jochen König (04.2020) / Titel-Motiv: © Edel Motion
Virenalarm in der finnischen Schneewüste – die passende Serie zum Zeitgeschehen?
Als Polizistin Nina Kautsalo und ihr Kollege Niilo Aikio auf Schneemobilen, im finnisch-russischen Grenzgebiet um Ivalo, durch die Schneewüste brettern, um wegen gemeldeter Schüsse zu ermitteln, gehen sie noch von einem gewöhnlichen Fall von Wilderei aus. Doch im Keller des einsam gelegenen Hauses findet Nina eine misshandelte und vergewaltigte Frau in einem Käfig. Die beiden Polizisten bringen die komatöse junge Frau ins Krankenhaus. Dort werden Blutproben entnommen und zur Untersuchung eingeschickt. Das ruft den deutschen Virologen Thomas Lorenz auf den Plan, der in Helsinki für das ECD (European Center for Disease Control) arbeitet. Denn die junge Russin, die als Prostituierte in der Grenzregion arbeitete, ist mit dem Jemen-Virus infiziert, den Lorenz aus der Vergangenheit gut kennt. Ein perfider Erreger, der sexuell übertragen wird und so lange ruht, bis die Trägerinnen schwanger werden. Dann führt die die Schwangerschaft zu schweren Missbildungen oder dem Tod des Babys. Die werdenden Mütter sterben ebenfalls.
Um seinen Verdacht zu erhärten, fliegt Lorenz nach Ivola. Dort sind zwei weitere Prostituierte ermordet aufgefunden worden. Ebenfalls infiziert. Thomas Lorenz beginnt seine Untersuchung – unter dem Deckmantel einer Herpes-Forschung – und findet heraus, dass es weitere Betroffene gibt. Unter anderem Nina Kautsalos leichtlebige Schwester Marita. Die Suche nach Raunalo, dem Frauenmörder und vor allem nach Patient Null, dem ersten Übertrager beginnt. Kautsalo und Lorenz ermitteln im Team, das nicht nur eine berufliche Anziehungskraft verspürt.
In Kinderschuhen auf den Spuren von 24
Gleichzeitig wird Markus Eiben, der deutsche, millionenschwere Besitzer eines Pharmaunternehmens auf die Ereignisse im Hohen Norden aufmerksam. Auch er begibt sich mitsamt einem schlagkräftigen Team auf die Suche nach dem Indexpatienten. Seine unklare Motivlage (geschäftlich oder persönlich?) bekommt erst scharfe Konturen, als der Showdown jenseits der finnischen Grenze eingeläutet wird.
Es wird weitere Todesopfer geben, familiäre Konflikte und einen Verursacher, der langsam aus dem Schatten eines militärisch-industriellen Komplexes heraustritt, dessen Vertreter im Bosnienkrieg mit menschenverachtender Kaltblütigkeit eine ganz spezielle Art der Geburtenkontrolle im Feindesland durchgeführt haben.
Ein starker Start…
Bereits 2018 produziert und seit Februar vom ZDF ausgestrahlt, beginnt „Arctic Circle“ als beinahe prophetischer Kommentar zur aktuellen Corona-Krise. Ein unbekannter Virus, der später zudem mutiert und nicht nur über Geschlechtsverkehr, sondern auch über die Luft ansteckend wirkt, droht, sich von einem zentralen Punkt aus über die ganze Erde zu verbreiten. Während die ersten beiden Folgen, vor atemberaubender, schneebedeckter Naturkulisse, enorme Spannung und eine unheilschwangere Atmosphäre aufbauen, flaut der scheinbar aufziehende Sturm bald zu einem lauen Lüftchen ab. Überreich garniert mit verzwickten und verwinkelten Schachzügen, die Überraschung und Tiefe vorgaukeln sollen, wo nur Orientierungslosigkeit und unausgegorene Oberflächenreize herrschen.
Ohne groß zu spoilern: Die abgeschiedene Lage sorgt für eine natürliche Einkesselung des todbringenden Virus, sodass eine Pandemie (vorerst) ausbleibt. Die gefährliche Mutation und der neue Übertragungsweg fallen einer Dramaturgie des Vergessens zum Opfer, die sich nicht nur mancher Idee, sondern auch einiger Nebenfiguren annimmt (was wurde eigentlich aus dem elegant gekleideten, aber ekligen Folterknecht der russisch-serbischen oder wie auch immer gearteten Mafia?).
… und ein schwacher Abgang
Das interessante Ausgangskonstrukt wird unterminiert durch dramaturgische Ingredienzen, die dem Handbuch des stereotypen Fernsehschaffens entnommen sind. Da gibt es den sinistren Großindustriellen, den Clemens Schick als nachdenklichen Mephisto anlegt, obwohl er eher Faust auf Rachemission ist. Der wahre Teufel hält sich turnend an Ringen fit und schwadroniert bedeutungsschwanger, bevor ihn sein erwartbares Schicksal ziemlich beiläufig ereilt. Eine weitere Schachfigur, die uninspiriert übers Spielfeld gezogen wird. Die Handlung bewegt sich unaufhaltsam, aber keineswegs zwangsläufig auf den Showdown zu, einer militärisch angelegten Operation, die zwar aus dem Ruder läuft, aber trotzdem irgendwie zum Erfolg führt.
Während Kautsalo und Lorenz bezüglich des ursprünglichen Virusverbreiters im Dunkeln tappen, erweist sich Markus Eiben als Deus Ex Machina, der den richtigen Weg weist. Hätte man den konsequent (und mit größerem Etat?) beschritten, wäre am Ende immerhin ein ordentliches Actionfeuerwerk drin gewesen. Inhaltlich sogar zugeschnitten auf die ehemalige Elitesoldatin Nina Kautsalo. Doch in Wirklichkeit bleibt es bei ein paar Phrasen über Professionalität und Feuerkraft, bevor die Aktionen im Feindesland weitgehend im Off scheitern. Der eklatante Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird offensichtlich, aber nicht bebildert. Schade um Nina, der man endlich einmal einen durchschlagenden Einsatz gewünscht hätte.
Und täglich grüßt der Familienzwist
Doch diese Stärke trauen Regisseur Hannu Salonen und seine Drehbuchautoren Joona Tena und Jón Atli Jónasson der prägnanten Hauptfigur nicht zu, weshalb Thomas Lorenz ihr unter die Arme greifen muss. Salonen vertraut leider auch nicht der Kraft der Ausgangsidee und der darauf beruhenden Entwicklungsmöglichkeiten.
„Wenn es jetzt nur um das Virus und seine Verbreitung gegangen wäre, hätte mich der Stoff nicht besonders interessiert. […] Nur von der polizeilichen Arbeit oder von der Arbeit des Virologen zu erzählen, wäre nicht abendfüllend gewesen. Wir wollten zeigen, wie die Betroffenen und ihre Familien auf Herausforderungen reagieren.“
Diese, in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau getroffene Aussage ist höchst bedauerlich, denn die genannten „Herausforderungen“ bremsen die Serie aus und sind partiell sogar ärgerlich. Während die familiären Bürden auf Kautsalos Seite zwar dick aufgetragen (krebskranke Mutter, labile, infizierte Schwester und Tochter mit Down Syndrom, die ständig nach dem abwesenden Vater fragt), aber der Handlung halbwegs verbunden sind, ist der Scheidungs- und Sorgerechtskrieg um Thomas Lorenz eine peinliche, strapaziöse Zeitverschwendung. Dass die Psyche seiner Gattin eher einer maroden Geisterbahn als einer heimeligen Wohlfühloase gleicht, wird bereits mit deren erstem Auftritt deutlich.
Der hinterhältige Rosenkrieg, eine kurze Gerichtsverhandlung und der Sorgerechtstermin sind bloße Karikatur, die Stimmung machen sollen und im Nirvana enden. Die gemeinsame Tochter ist bloße Staffage, die von Lorenz während des Dates mit den Mitarbeiterinnen des Jugendamtes hemdsärmelig geopfert wird. „Ich muss einem todkranken Kind helfen, das verstehst Du doch?“ stammelt er zum Abschied und verschwindet. Fast überflüssig zu erwähnen, dass sein Einsatz gar nicht nötig gewesen wäre, das Kind bekommt Hilfe von ganz anderer Seite. Was dem halbwegs fernsehgeübten Publikum von vornherein klar war. Hoher Fremdschamfaktor.
Warum sich ein Blick auf den Zwiespalt lohnt
Warum ist „Arctic Circle“ trotz überflüssiger Erzählstränge und Längen, holpriger Dramaturgie und fetter Logiklöcher dennoch sehenswert? Das liegt zum einen an der Landschaft, einem unverbrauchten, menschenabweisenden Setting, die als zusätzlicher Hauptdarsteller fungiert und in faszinierenden Bildern erfasst wird. Wie auch die Architektur und topographische Besonderheiten darin. Das Schachbrett in Szene zu setzen, gelingt Hannu Salonen wesentlich besser als die Figuren darauf.
Die finnische Schauspielerin Iina Kuustonen besitzt Charme und Charisma, darf mit ein paar starken Onelinern brillieren und ist schauspielerisch in der Lage die zehnteilige Serie zu tragen, obwohl sie ein ums andere Mal vom Drehbuch im Stich gelassen wird. Ähnliches gilt für ihren deutschen Kollegen Maximilian Brückner, an dessen eigenwillige Diktion man sich zwar gewöhnen muss, und er noch mehr als Kuustonen unter den Kapriolen des Drehbuchs leidet. Der Chemie zwischen Kautsalo und Lorenz tut das keinen Abbruch. Klasse auch Venla Ronkainen als Ninas Tochter Venla, genannt „Puppu“.
Die weiteren Nebenfiguren agieren – oder chargieren – unterhaltsam, auch wenn am Einlass zum Palast der unfreiwilligen Komik mitunter heftig gerüttelt wird. Die finster-drängende Musikbegleitung stemmt sich aber vehement und erfolgreich dagegen.
Fazit:
So bleibt „Arctic Circle“ ein zwiespältiges Vergnügen, das zwar ordentliche Schauwerte und manch spannende Sequenz enthält, aber gemessen an seinem Potenzial eine vertane Chance darstellt.
Arctic Circle - Der Unsichtbare Tod
Originaltitel: Arctic Circle
Regie: Hannu Salonen
Darsteller:Iina Kuustonen, Maximilian Brückner
Produktionsland: Deutschland, Finnland
Produktionsjahr: 2018
Bildformat: 16:9
Label: Edel Germany GmbH
Gesamtlaufzeit: 429 Min. auf 3 DVDs
Altersfreigabe (FSK): ab 16 Jahren
Ton:Finnisch, Dolby Digital 5.1 AC-3;Deutsch, Dolby Digital 5.1 AC-3
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Cover und Fotos: © Edel Motion
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