Jetzt und auf Erden
- Heyne
- Erschienen: Januar 2011
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- New York: Modern Age Books, 1942, Titel: 'Now and on earth', Seiten: 306, Originalsprache
- München: Heyne, 2011, Seiten: 356, Übersetzt: Peter Torberg
Life is a bucket of shit with a barbed wire handle
Jetzt und auf Erden ist kein Kriminalroman. Arbeiterliteratur vielleicht? "Im weiteren Sinne ist damit auch jede Literatur über die Situation der Arbeiter gemeint, unabhängig von der sozialen Herkunft des Autors”, steht im Wikipedia-Eintrag. Damit ist der Part ziemlich gut umrissen, der sich mit James "Dilly” Dillons Beschäftigung und deren Bedingungen in einer Flugzeugfabrik während des zweiten Weltkriegs befasst. Jim Thompson beschreibt die Monotonie des Tagesablaufs seines Protagonisten mit unerschütterlicher Genauigkeit. Aufstehen, zur Fabrik fahren, sich in nahezu sinnlosen, bzw. unverständlichen Arbeitsabläufen verirren; dann nach Hause, zur in tiefer Hassliebe verbundenen Familie, Stress, Geldsorgen und zwischendurch ein flüchtiges Vergnügen. Heißt: Alkohol und Zigaretten. Vollrausch in Tijuana. Blut husten. Über den geisteskranken Vater räsonieren. Gegen eine Schreibblockade ankämpfen. Nichts ernstes. Nur ein bisschen Verzweiflung. Das Leben halt.
Auch wenn Upton Sinclair und sein Dschungel einer entmenschlichten Arbeitswelt nicht weit entfernt ist, trennen ihn und Thompson doch Welten. Denn sein Dillon ist kein verzweifelt Arbeit Suchender, der zwischen den Mühlrädern unmenschlicher Bedingungen zermahlen wird und schließlich seine Hoffnung in einer neuen politischen Perspektive schöpft. Hier ist ein Intellektueller in einer Schaffenskrise, der sich in sein Schicksal ergibt, scheinbar willenlos treiben lässt, ein Spielball in den Händen der Frauen seines Lebens (Mutter, Gattin, Schwestern, Töchter), ständig seinen in den Wahnsinn gleitenden Vater im Blick. James Dillon verweigert sich dabei dem einfachen Weg, schreibt keine erfolg- und geldversprechenden Stories, wird nicht Lektor eines angesehenen Verlags, kämpft nicht um Stipendien. Er bleibt Arbeiter in einer Flugzeugfabrik, deren Strukturen er zwar nicht versteht, die er aber fast traumwandlerisch im Griff hat. Binnen kurzem verbessert sich seine berufliche Position, er verdient zwar nicht viel, aber mehr als andere, die länger dabei sind.
Dilly ist ein konsequenter Existenzialist, dessen Passivität sowohl seine Stärke wie seine Schwäche ist. Eigentlich kann ihm niemand etwas anhaben, selbst als seine Vergangenheit herauskommt, bleiben die Folgen überschaubar gnädig. Er geht geradezu gestärkt aus den Konfrontationen hervor, bereit etwas neues, altes zu probieren. Allein. Ein Loner, ein Getriebener – und nicht nur damit ganz dicht an Thompsons Antihelden seiner tiefschwarzen Krimis.
Jim Thompsons Debüt aus dem Jahr 1942 (überarbeitet vom Autor 1970) ist ein außergewöhnliches Buch. Keine Morde, nicht einmal Verbrechen – außer einem bisschen Mundraub, Nötigung eines Freundes und eine kurz angerissene Episode körperlicher Gewalt. Stattdessen die detaillierte Schilderung von Arbeitsabläufen, die in ihrer Willkür und scheinbaren Unordnung ein Pendant bilden zum Leben in einer Gemeinschaft. James Dillon, obwohl mittendrin in familiären Dramen und beruflichen Grabenkämpfen, ist ein und bleibt Außenseiter, ein Beobachter seines Lebens und des Treibens um ihn herum. Mit der Angst in einen betäubenden Wahnsinn abzugleiten wie sein Vater. Dem Thompson viel Raum widmet, der ein ganzes Kapitel lang als Erzähler fungiert, obwohl er in der eigentlichen Erzählung nur als Schatten vorkommt; die Erinnerung an eine mögliche große Zukunft, die dann doch nicht eintritt. Insofern ist er ein perfekter Spiegel der kommenden Jahrzehnte.
Paradoxerweise ist James Dillon während seiner Schreibblockade genau das, was er so verzweifelt negiert: ein begnadeter Chronist und Erzähler. Er tritt bloß soweit hinter sich selbst zurück, dass man ihm als Leser zurufen möchte: "Nimm die Beine in die Hand und renn´!" Weg von den (Alp)träumen einer bürgerlichen Vergangenheit, weg von Menschen, die in einem schwachen Egoisten den Patriarchen sehen möchten, der sie mit sicherer Hand in die Zukunft führt; weg von den bescheidenen Aufstiegsmöglichkeiten in einem Job, dessen Lohnerhöhungen sich im ein- bis zweistelligen Cent-Bereich bewegen. Doch dummerweise weiß Dillon eins genau: dass sein Streben nach Selbstverwirklichung Verrat und Verlust zugleich bedeutet. Der beiläufige Schluss, eher Anti-Klimax als großes Finale, lässt vermuten, dass Dillon bereit ist, das Wagnis einzugehen.
Sein Schöpfer hat es jedenfalls getan. Und ist, obwohl (postum) hochgelobt und einflussreich, finanziell selten über den Status des unterbezahlten Stahlarbeiters hinausgekommen. Egal wie viel davon auf Tatsachen beruht, oder ob Thompson derart hellsichtig war, Jetzt und auf Erden ist ein vorauseilendes Schlüsselwerk. Ein großer Roman, aber im Offensichtlichen viel zu unspektakulär und sperrig, um über den so gerne beschworenen Kultstatus hinauszukommen. Zu wünschen wäre es ihm allerdings; denn Jim Thompson hat viel zu erzählen über Menschen, ihre Belange und das Leben im Industriezeitalter. Jetzt.
Dass Heyne den Roman erstmalig(!) vollständig auf Deutsch veröffentlicht, ist mit Flugzeugteilen nicht aufzuwiegen. Dass Jetzt und auf Erden in der "Heyne-Hardcore"-Reihe erscheint, u.a. neben einem Krawallautoren wie Richard Laymon (genau genommen und etwas passender, haarscharf zwischen Hunter S. Thompson und Iggy Pop), ist ein Witz. Allerdings einer, der Jim Thompson vermutlich gefallen hätte.
Jim Thompson, Heyne
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