Wenn die Vergangenheit lebendig bleibt
Gründonnerstag in Zürich: Der Rentner Lothar Otterbach will eigentlich nur einen Feigenbaum in seinem Schrebergarten an der Limmat einpflanzen, als er eine schreckliche Entdeckung macht: Tief im Boden liegt eine Leiche begraben. Das Opfer: ein Jude. Das Seltsame: Er wurde nicht nur mit einer Pistole der deutschen Wehrmacht erschossen, sondern bereits vor über 45 Jahren getötet. An seinem Unterarm wurde eine Nummer eintätowiert, die ihn als ehemaligen KZ-Häftling ausweist. Kriminalpolizist Theo Glauser und sein Team übernehmen die Ermittlungen und werden dabei vom Rechtsmediziner Max Noll, der von allen nur Sokrates genannt wird, unterstützt. Noch während der Kripo in der jüdischen Gemeinde ermittelt, geschieht ein weiterer Mord.
Spur führt in die theologische Fakultät
Fritz Uhland, Theologieprofessor der Universität Zürich, liegt tot in seiner Wohnung. Er wurde mit dem Biozid Zyklon B vergiftet, das die Nazis in großem Umfang zum organisierten Massenmord in den Vernichtungslagern einsetzte. Auf dem Unterarm des Opfers wurde die Zahl „2015“ eingeritzt. Sokrates, der bucklige Rechtsmediziner, steht vor einem Rätsel. War der Theologieprofessor etwa Kopf einer Verschwörung? Und hängen die beiden Morde irgendwie zusammen? Die Ermittler müssen erkennen, dass die Spur bis zu den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges reicht und sie in den Abgrund des Bösen blicken lässt.
Fortsetzung der Sokrates-Reihe
Autor Wolfgang Wettstein, geboren 1962 in München und Mitglied im „Syndikat“, ist Journalist und studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Freiburg im Breisgau und in Zürich. Wettstein arbeitete über zwanzig Jahre beim Schweizer Radio und Fernsehen als Redakteur, Produzent und Redaktionsleiter. Nach „Mörderzeichen“ (2015) und dem mit dem Zürcher Krimipreis ausgezeichneten „Feuertod am Sechseläuten“ (2017) (beide im Emons Verlag veröffentlicht) erscheint nun mit „Der Fluch“ sein dritter Kriminalroman um den philosophischen Rechtsmediziner Sokrates im Theologischen Verlag Zürich (TVZ).
Wettstein gelingt ein tiefgründiger Kriminalroman über Antisemitismus und Judenfeindlichkeit, der den Bogen spannt vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart. Dabei verbindet er geschichtliches Hintergrundwissen geschickt mit einer bewegenden und zu tiefst traurigen Familiengeschichte.
Eindringliche Geschichte
Der dritte Band der Sokrates-Reihe ist kein actiongeladener, temporeicher Kriminalroman, sondern nimmt sich auf sehr eindringliche Weise dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte an. Dabei werden ethisch-moralische Fragestellungen - insbesondere vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges - ebenso diskutiert wie aktuelle antisemitische Haltungen, die immer noch die Gesellschaft vergiften. Wolfgang Wettstein lässt zum Teil auch einfach Bilder wirken, wenn sich zum Beispiel Sokrates' Tochter Maria, die für das Schweizer Fernsehen arbeitet, vor Ort in Auschwitz mit den Gräueltaten des NS-Regimes auseinandersetzt.
Darüber hinaus laden auch die zahlreichen Gedankenexperimente und Dilemmata, mit denen sich Sokrates und Sara, eine junge Blumenverkäuferin, auseinandersetzen, zum Nachdenken ein. Vor allem überzeugt Wettstein aber mit einer spannenden Kriminalgeschichte, bei der auch eines der dunkelsten Kapitel der reformierten Kirche, Neonazis und NS-Raubkunst thematisiert werden. Ein unglaublich vielfältiger und vielschichtiger Roman, der sehr gut unterhält.
Etwas überbordende Darstellung
Dennoch besitzt die Erzählung auch kleinere Schwächen. So irritiert es zum Beispiel etwas, dass sowohl das Ermittlerteam um Theo Glauser als auch Sokrates jeden einzelnen Schritt ihres Vorgehens kommentieren. Sicherlich erfährt man dabei viel Wissenswertes über die Ermittlungsarbeit, gleichzeitig stören die ständigen Erklärungen mitunter, da sich reale Ermittler gewiss nicht gegenseitig ihre Arbeit erläutern würden. Vor allem aber bewegt sich Wettstein mit den geschichtlichen Fakten und dem großen Hintergrundwissen zur NS-Zeit, aber auch zu Themen wie Religion, Philosophie und Kunst mitunter nah an der Grenze zum Sachbuch. Auch wenn dieser Detailreichtum bereichernd sein kann, dürfte es auch einige Leser abschrecken, da der Erzählfluss mitunter etwas verloren geht.
Fazit
„Der Fluch“ ist ein spannender Kriminalroman, der mit viel zeitgeschichtlichem Wissen und tiefgründigen Fragen zu den Bereichen Religion, Ethik und Philosophie zu überzeugen weiß. Wettstein erzählt eine vielschichtige Geschichte, die mehr als nur eine Kriminalerzählung ist. Der Autor zeigt, dass Theologie durchaus fesselnd sein kann.
Wolfgang Wettstein, TVZ
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