In letzter Sekunde
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2003
- 13
- New York: G. P. Putnams Sons, 2001, Titel: 'Echo Burning', Seiten: 354, Originalsprache
- München: Goldmann, 2003, Seiten: 503, Übersetzt: Wulf Bergner
- München: Blanvalet, 2004, Seiten: 503
Wüstensonne lässt Sicherungen durchbrennen
Jack Reacher, hat es auf seiner unsteten Wanderschaft durch die Vereinigten Staaten ins wüstenheiße Westtexas verschlagen. Dem Streit mit einem rauflustigen, aber im Zweikampf glücklosen Kleinstadt-Cop verdankt der Ex-Militärpolizist die Bekanntschaft der schönen Carmen Greer, die ihn in ihrem Wagen aufliest und aus der Schusslinie bringt.
Dort er gerät wie so oft vom Regen in die Traufe: Die junge Frau ist auf der verzweifelten Suche nach einem Killer, der sie von ihrem gewalttätigen Gatten befreit. Die Greers sind ein Clan texanischer Ölbarone, wie er im schlechten Buche steht. Sloop, der bewusste Gatte, hat genug von seiner geprügelten, gedemütigten Frau, will sie loswerden und ihr die gemeinsame Tochter rauben - dies um so mehr, als Carmen ihn vor anderthalb Jahren ans Finanzamt verpfiff und ins Gefängnis brachte. Über seine degenerierte Familie lässt er Carmen samt Tochter in Echo gefangen halten bis zum Tag seiner Freilassung. Der steht nun bevor und dann wird Sloop sich rächen.
Reacher ist kein Mörder, helfen will er aber trotzdem. So begleitet er Carmen auf die Greer-Ranch und ins einsame Städtchen Echo, das den Greers mit Mann und Maus praktisch gehört. Alle warten auf den Moment, da Sloop erscheinen wird - die in unheiliger Vorfreude schwelgenden Greers, die verängstigte Carmen und ihre Tochter, der abwartende Reacher - und ein Trio mysteriöser Killer, die es offenbar auf den auch sonst im Umgang mit dem Geld seiner Geschäftsfreunde notorisch laxen Sloop abgesehen haben - oder hat Sloop selbst sie angeheuert, um es denen heimzuzahlen, die ihn an das Finanzamt verrieten?
Reacher verliert den Überblick, als sich die Ereignisse zu überstürzen beginnen. Carmen erweist sich als Mörderin und Lügnerin, Sloop womöglich nicht als der Unmensch, als der er hingestellt wurde. Die Killer belagern die Ranch; auf ihrer Todesliste steht inzwischen auch Reacher. Doch der lockt sie in die Wüsteneinsamkeit - und dann beginnt Echo wahrlich zu brennen ...
Jack Reacher-Romane sind Unterhaltungs-Literatur reinsten Wassers - sie werden von ihrem Verfasser fabriziert wie Möbelstücke. Jedes Jahr wird einer pünktlich fertig: solide Ware, ohne Schnickschnack, gern gelesen und treu neu gekauft. Das hat seine Gründe, Reacher-Thriller sind wirklich gut.
Kein Wunder, denn Lee Child hat die Gesetze des Genres genau studiert und hält sich nun daran. Geradlinig und schnell müssen seine Geschichten sein, die Handlungsstränge sind arm an Zahl und Verwicklungen, Originalität oder Anspruchsdenken stören nie den Ablauf. Eines Besseren sei dabei belehrt, für den sich das negativ anhört. Wie die vier Vorgängerbände ist "In letzter Sekunde" ein atemloser Action-Lesespaß.
Ein harter Mann, eine schöne Frau, eine von Schuften bevölkerte Wüstenstadt, die zusätzlich von Verbrechern bedroht wird - eine sehr klassische Konstellation, die schon manchen Western zuverlässig bis zum großen Final-Showdown gebracht hat. Die Story von "In letzter Sekunde" ist also wohl bekannt, die Figuren sind es auch, Child gibt gar nicht vor das Rad neu erfinden zu wollen. Statt dessen erzählt er einfach seine Geschichte.
Hier und da vorkommende Übertreibungen und allzu plakative Bilder - die Greer Ranch ist von den Grundmauern bis zum Dachfirst höllenrot gestrichen - verzeiht man dem Verfasser bzw. wertet sie großzügig als Reminiszenz an große Vorbilder; hat nicht schon Clint Eastwood in "High Plains Drifter" (1973, dt. "Ein Fremder ohne Namen") eine ganze Stadt rot anstreichen lassen, um deren Verkommenheit zu brandmarken?
Und dass Child Texas als Hort grenzdebiler Rassisten, korrupter Sheriffs, heruntergekommener Cowboys und absolutistischer Wüstenkönige schildert, muss er selbst mit den Einheimischen ausmachen ... Als Kulisse funktioniert diese Provinzhölle jedenfalls gut. Sie erfüllt zudem den perfiden Zweck, die Leser in falscher Sicherheit zu wiegen. Als sie schon glauben, die Figuren zu kennen, sorgt Child für Spannung durch Unsicherheit, indem er Gute und Böse die Rollen tauschen lässt bzw. die Trennung zwischen ihnen aufhebt. Trauen können wir nur Reacher, denn der wird Tarnungen und Täuschungen garantiert und rabiat auf- und in die Luft fliegen lassen.
Reacher = Ritter. Auf diese Formel lässt sich die ohnehin karge Persönlichkeit unseres Reisenden reduzieren. Wenn er nicht gerade den Entrechteten und Hilflosen zur Seite springt, vertreibt er sich die Zeit damit, durch sein Heimatland zu treiben. Was ihn dazu bringt, die Sesshaftigkeit so zu fürchten, kann Child trotz diverser Erklärungsversuche nicht recht begreiflich machen. Letztlich ist es wohl so, dass Reacher ist, wie er ist, um als ideale Serienfigur eine schwungvolle Handlung an vielen Orten in Gang zu setzen. Lee Child ist ein ungemein ökonomisch arbeitender Autor, dem solcher Pragmatismus keineswegs fremd ist.
Als Mensch mögen wir Reacher nicht unbedingt, aber wir begleiten ihn gern bei seinen Abenteuern. Er redet nicht so schrecklich viel oder so viel Unsinn wie seine Action-Kollegen, er will uns weder belehren noch überzeugen. Statt dessen ist er einfach da und handelt. Solche Eindimensionalität lässt man sich durchaus gern gefallen, wenn sie so spannend verpackt ist wie hier. Ein dumpfer Schläger ist Reacher darüber hinaus sicher nicht.
Die verfolgte Schöne ist zwar schön und sexy, aber hilflos ist sie auch in übler Lage nicht. Child bemüht hier ein wenig das (politisch korrekte) Bild von der stolzen Latino-Prinzessin, die sich in eine rasende Mutter-Löwin verwandelt, doch auch das ist Täuschung: Carmen Greer ist sogar noch zäher als selbst Reacher es lange ahnt.
In Texas ist alles überlebensgroß - das Land, die Städte, die Hüte und auch die Arschlöcher. Letzteres ist Childs Interpretation, die er jedoch mit Leben zu füllen weiß. Reaktionäre, von sich eingenommene, großmäulig-laute, rassistische, chauvinistische, bigotte etc. Großfamilien hat es in Literatur und Film bereits viele gegeben. Auch hier ist Child nichts Neues eingefallen. Seine Leistung besteht darin, die eigentlich zum Klischee geronnenen Horror-Gestalten mit Leben zu füllen. Die Greers wirken schrecklich lebendig in ihrer angemaßten Selbstherrlichkeit, deren Demontage man deshalb genüsslich verfolgt.
Wieder einmal die Kirsche auf dem Kuchen sind Childs Nebendarsteller. Sofort in den Bann zieht die Darstellung des Killer-Trios; keine sadistischen Irren, die tarantinoesk dekorativ mit großkalibrigen Feuerwaffen umherfuchteln, sondern nüchterne, erfahrene, hart arbeitende Männer und eine Frau, Profis, denen man gern bei der Arbeit zusieht - und sofort ein politisch korrekt schlechtes Gewissen deshalb verspürt.
Lee Child, Goldmann
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