Das hohe Fenster
- Nest
- Erschienen: Januar 1952
- 1
- New York: A. Knopf, 1942, Titel: 'The High Window', Seiten: 240, Originalsprache
- Frankfurt am Main: Nest, 1952, Seiten: 291, Übersetzt: Mary Brand
- Frankfurt am Main: Ullstein, 1956, Seiten: 187, Übersetzt: Mary Brand
- Berlin: Volk und Welt, 1970, Seiten: 294, Übersetzt: Mary Brand
- Zürich: Diogenes, 1975, Seiten: 263, Übersetzt: Urs Widmer
- Frankfurt am Main: Ullstein, 1977, Seiten: 187, Übersetzt: Mary Brand
Die Welt als Irrenanstalt
Marlowe wird von der reichen Elizabeth Bright Murdock aus Pasadena mit der Wiederbeschaffung ihrer gestohlenen Brasher-Dublone beauftragt, einer wertvollen, unverkäuflichen Goldmünze aus dem Nachlass ihres zweiten Mannes Jasper. Den Diebstahl hat sie nur bemerkt, weil der Münzhändler Elisha Morningstar sie anrief und fragte, ob die Münze zu verkaufen sei. Das Dienstpersonal sowie ihren versnobten Sohn Leslie und die völlig verängstigte Privatsekretärin Merle Davis, die von ihr wie eine Sklavin behandelt wird, schließt sie als Diebe aus. Sie verdächtigt ihre Schwiegertochter Linda Conquest, eine ehemalige Nachtclubsängerin, die vor einer Woche plötzlich verschwand. Leslie versucht Marlowe wegen des Auftrages auszufragen und verrät dabei, dass er sich bei dem Nachtclubbesitzer Alex Morny verschuldet hat. Seine Mutter hält ihn kurz, und von seinem Vater Horace Bright, der sich acht Jahre zuvor das Leben nahm, hat er nichts geerbt. Marlowe begibt sich auf die Suche nach Linda zu deren Freundin und Kollegin Lois Magic, die seit einigen Monaten mit dem Spieler Morny verheiratet ist und nun in einer Villa in Bel-Air lebt.
Mit zwingender Logik von A nach B
Chandler begann 1939 mit seinem dritten Roman, dem er den Arbeitstitel "A Burlesque on the Pulp Novelette.." gab. Anders als die beiden Vorgänger Der große Schlaf und Lebwohl, mein Liebling enthält er nahezu ausschließlich neues Material. Lediglich eine kleine Passage aus der Geschichte Der König in Gelb (1938) baute Chandler ein. 1942 war das Buch abgeschlossen, aber immer noch ohne Titel. Nach längerer Überlegung entschied sich Chandler für "The High Window", weil der Titel einfach und suggestiv war und auf den zentralen Anhaltspunkt deutet. Die Öffentlichkeit nahm den Roman positiv auf. Die einzige negative Kritik kam von Chandler selbst, der meinte, der Roman habe keine Action und keine sympathischen Figuren.
Das Hohe Fenster gehört zu den am besten strukturierten Romanen Chandlers. Er wählte ein labyrinthisches Konzept: eine Vielzahl an Schauplätzen und Personen, zwischen denen Marlowe in schnellem Tempo wechselt, von den Figuren eingestreute desorientierende Informationen, die Marlowe gegeneinander stellen und bewerten muss, unvollständige und falsche Informationen über die Figuren selbst. Da Marlowe in sehr kurzer Zeit mit sehr vielen Menschen und Verbrechen zu tun bekommt, wird eine hohe Dichte des Zusammenlebens und der Kriminalität vermittelt. Der Leser erfährt erst am Ende durch Marlowes Erläuterungen den Gang der Ereignisse, indem der Detektiv die einzelnen Geschehnisse wie ein Puzzle zu einem plausiblen Ganzen zusammenfügt.
Kriminalität und Verteilung sind eng miteinander verknüpft: die Besitzenden beuten die Besitzlosen aus, dies zumeist illegal. Merle steht für das Proletariat. Sie besitzt nur ihre Arbeitskraft und wird von der reichen Mrs. Murdock über Erpressung ausgenutzt. Erniedrigt wird auch der Barmixer im Club, der von einem reichen Gast beleidigt wird, natürlich grundlos. Lois' und Lindas einziges Kapital ist ihre Schönheit. Beide verkaufen sich damit an reiche Männer, beide scheitern. Vanniers Kapital ist sein Wissen um die Geheimnisse anderer Menschen. Menschen, die den sozialen Aufstieg versuchen, gehen zugrunde. Die Reichen schotten sich ab, gelten als besonders schützenswert. So wird Idle Valley beispielsweise gesondert von der Polizei bewacht. Ein Polizist lenkt Marlowe um das reiche Viertel herum.
Die Vorstellung, jeder könne Erfolg haben, wenn er nur wolle, wird als hohle Phrase entlarvt, als Lüge der Besitzenden, um die besitzlose Masse ruhig zu halten. Gerechtigkeit ist eine Frage der Klassenzugehörigkeit. Verbrecher wie die Murdocks und Mornys kommen unbeschadet davon. Marlowe erzählt von dem Fall Cassidy: ein Millionärssohn tötete erst den Sekretär und dann sich. Die Polizei stellte es jedoch umgekehrt dar, mit der Begründung, es seien ja beide tot, weshalb es keinen Unterschied mache, wer wen erschossen habe.
Marlowe stellt das herrschende Rechtssystem in Frage, besonders das Auseinanderfallen von Recht und Gerechtigkeit. Er folgt seinen eigenen Vorstellungen, die damit vereinbar sind, dass er vertrauliche Informationen zurückhält, die für die Falllösung wichtig sein könnten, und er manipuliert einen Tatort gar soweit, dass ein Mord nach einem Suizid aussieht. Für ihn ist die Manipulation der Schwachen durch die Starken ein größeres Verbrechen als Mord, die Substitution einer verrotteten kollektiven Moral durch einen individuellen Moralkodex nur folgerichtig.
Raymond Chandler, Nest
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