Dunkle Schatten
- Pendragon
- Erschienen: Januar 2012
- 4
- Bielefeld: Pendragon, 2012, Seiten: 366, Originalsprache
Kollaboration und Widerstand, eine Verbindung bis zum Tod
Der Pendragon-Verlag hat sich in den letzten Jahren verdient um Romane gemacht, die sich dezidiert mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen auseinandersetzen. Ob Mechtild Borrmann mit Wer das Schweigen bricht (ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis 2012), Rainer Gross mit seinen beiden Romanen Grafeneck und Kettenacker, die sich mit Euthanasie und damit verbundenen Menschenversuchen beschäftigen, oder ganz aktuell Jürgen Heimbachs Unter Trümmern und dem vorliegenden Dunkle Schatten von Christoph Ernst.
Ein Novize ist Ernst nicht, ließ er doch schon seinen Detektiv Jacob Fabian in einem Fall ermitteln, dessen Spuren bis zurück nach Auschwitz reichten (Kein Tag für Helden). Von der Verfolgung und Auslöschung der jüdischen Bevölkerung im Dritten Reich handelt auch Dunkle Schatten. Und von viel mehr. "Leider" möchte man fast sagen, denn die Geschichte die Ernst erzählt, platzt nahezu aus allen Nähten.
So mischen sich in den Hauptstrang, der von Käthe Hirschs Rückkehr nach Berlin und ihrem Tod Anfang der 90er erzählt, Betrachtungen über das innerdeutsche Ost/Westverhältnis, das höchst verdächtige Verhalten der Immobilienbranche in der Bundeshauptstadt und am Rande noch der aufkeimende Neofaschismus und die Schwierigkeiten aus der rechten Szene auszusteigen. Alles hochspannende Themen, die der Autor ernsthaft und ohne waghalsige Übertreibungen abhandelt.
Letztlich zu viel von allem, wo jedes Thema für sich (mehr als) einen Kriminalroman wert wäre. So wird mancher Dialog zum Austausch von Thesenpapieren, insbesondere das östwestliche Diwankuscheln zwischen der Hauptfigur Maja Schäfer (weltoffene Westdeutsche) und ihrem ausgespähten Love Interest Hendrik (Ex-DDR-Aktivist) gerät arg parolenhaft. Dabei sind die vorgebrachten Argumente jeweils von überzeugender Nachvollziehbarkeit. Auf dem Papier. (Ich habe damals selbst in Berlin gelebt, und in den ersten Jahren nach der Maueröffnung ging es nicht darum, seine Vorstellung von Selbstverständnis auszutauschen, sondern erst einmal überhaupt miteinander klarzukommen. Und sei es an den endlos langen Schlangen vor der Aldi-Kasse.):
"Die Masse hat nach der D-Mark gekreischt."
"Nachdem sie mit Begrüßungsgeld abgefüttert worden war."
"Das waren meine Steuern. Dafür habt ihr dem Saumagenfresser die Wiederwahl beschert!"
"Andersrum! Erst haben eure Westparteien die komatösen Blockflöten reanimiert und die Bürgerbewegungen untergepflügt."
"Die Zwei-Staaten-Lösung war doch völlig illusorisch!"
"Das war der Mauerfall vor dem 9. November auch. So was weißt du immer erst hinterher."
So debattieren die beiden seitenlang. Alles einleuchtende Statements – wenn man gemeinsam eine Partei gründen möchte. Aber für ein zukünftig glücklich liebendes Paar eher befremdlich.
Vor allem, da Maja eigentlich ganz andere Dinge umtreiben. Sie leidet unter dem Verlust ihres kürzlich verstorbenen Vaters, der zeitlebens mit seiner jüdischen Vergangenheit haderte; jetzt ist auch noch die bewunderte Tante tot, vermutlich ermordet. Maja selbst augenscheinlich die Hauptverdächtige. Die unfähige Polizei, in Gestalt des Kommissars Ulf Jenninger, ermittelt Maja zu lasch und völlig fehlorientiert. Also muss sie selbst ran. Und kommt – mit Hendriks Hilfe – der Wahrheit so nahe, dass ein dilettantischer Mordanschlag auf sie verübt wird, dem beinahe ihre beste Freundin zum Opfer fällt. Maja lernt viel hinzu, muss lernen. Unter anderem, dass Freund und Feind manchmal äußerst schwer auseinanderzuhalten sind.
Beeindruckend ist Dunkle Schatten immer da, wo er sich der Vieldeutigkeit überlässt. Was macht eine "jüdische" Identität aus, gerade im Umgang mit der eigenen Vergangenheit; wie wird man zum Kollaborateur und wie lebt man damit, wie soll ein Täter-Opfer-Ausgleich funktionieren, in einer Welt, die keine klare Grenzen kennt, in der sich Biographien im Licht der politischen Entwicklung drehen und wenden. Beinahe nach Belieben.
Majas Spurensuche führt fast zwangsläufig in einen moralischen Hexenkessel. In eine Zeit, in der das eigene Leben plötzlich davon abhängen konnte, sich den potenziellen Vernichtern desselben auszuhändigen. Entscheidungen unter Drohungen, Folter und Vergewaltigung zu treffen, die aus einem Opfer einen Kollaborateur machen. Je weiter der Roman voranschreitet, umso mehr rücken die "Greifer" in den Vordergrund, jene Verzweifelten, die sich mit den Machthabern verbündeten, um das eigene Leben zu retten. Dafür aber die eigene Identität opfern – und ihre stigmatisierten Nächsten dazu.
Die Darstellung der Ambivalenz des menschlichen Verhaltens, die Ernst glücklicherweise von einer eindeutigen Verurteilung absehen lässt, macht aus Dunkle Schatten, trotz seiner Schwächen, ein eindrucksvolles und zum Nachdenken anregendes Buch. Christoph Ernst kann das Dilemma nicht lösen, konsequenterweise bietet er auch keine Lösung an, sondern überlässt den Leser seinen eigenen Gedanken.
Ansätze über Ansätze. Dafür ist der Roman nicht genug zu loben. An der Ausführung hapert es indes. Die Kriminalhandlung wird lapidar abgehandelt, das ein und andere Thema hätte man auch für ein weiteres Buch aufsparen können. Doch im Kern ist der Druck spürbar, der Geschichten an die Oberfläche spült, die einfach erzählt werden müssen. Christoph Ernst erzählt eine davon, möchte noch mehr und überhebt sich. Ihn dabei lesend zu begleiten lohnt sich allerdings.
Christoph Ernst, Pendragon
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