Der Mord des Jahrhunderts

  • Irisiana
  • Erschienen: Januar 2012
  • 4
  • New York: Crown, 2011, Titel: 'The murder of the century : the Gilded Age crime that scandalized a city and sparked the tabloid wars ', Seiten: 325, Originalsprache
  • München: Irisiana, 2012, Seiten: 448, Übersetzt: Carina Tessari
Der Mord des Jahrhunderts
Der Mord des Jahrhunderts
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2012

Vom Mord zum Medienereignis

Ein grausiger Mord im New York des Jahres 1897 entwickelt sich zu einem bizarren Ermittlungswettstreit zwischen der Polizei und der Presse … – Dieser Tatsachen-Roman missbraucht die Vergangenheit nicht als exotische Kulisse, sondern nutzt sie anschaulich als Rahmen eines zeitgenössischen "True-Crime"-Spektakels, das ausgezeichnet recherchiert und beschrieben wird: In der Tat ist nichts spannender als die Wirklichkeit!

Einen ersten Teil des Körpers ziehen spielende Kinder am 26. Juni 1897 in New York aus dem East River: den Brustkorb mit zwei Armen. Einen Tag später stoßen Spaziergänger im spärlich besiedelten Stadtteil Highbridge auf den dazu passenden, im Unterholz abgelegten Unterleib. Die wenig interessierte Polizei tippt auf die illegale Entsorgung einer sezierten Leiche durch Medizinstudenten, bis eine nähere Untersuchung des Brustkorbs ergibt, dass dieser Mann mit einem Messer attackiert wurde und durch einen Stich ins Herz starb.

In einer Großstadt wie New York werden täglich verstümmelte Leichen gefunden, doch diese wird zum Auslöser eines regelrechten Medienkrieges: In Sommer 1897 liefern sich zwei große Zeitungen einen erbitterten Kampf um Kunden und Auflagen. Joseph Pulitzer ist Herr der "New York World", sein jüngerer Herausforderer William Randolph Hearst leitet das "Evening Journal". Sie sind Publizisten einer neuen Generation: Die nüchterne Schilderung von Fakten weicht dem Boulevard-Journalismus und damit der spekulativ aufbereiteten, nicht selten selbst inszenierten Sensation.

Weniger wichtig und bisweilen störend sind die Fakten. Als sich herausstellt, dass die deutsche Einwanderin Augusta Nack sich mit der Unterstützung ihres aktuellen Liebhabers Martin Thorn des lästig gewordenen Vorgängers William Guldensuppe entledigt hat, ist dies der Presse vor allem Anlass, ein Eifersuchts- und Morddrama zu inszenieren, in welchem den Beteiligten Rollen zugewiesen werden.

Von den Zeitungen und einer manipulierten Öffentlichkeit vorverurteilt, werden Nack und Thorn zum Spielball der Justiz. Vor Gericht liefern sich ein ehrgeiziger Staatsanwalt und ein skrupelloser Verteidiger eine Schlacht, die wiederum von den parteiischen Medien angeheizt wird. Als das Urteil gesprochen wird, steht immerhin ein Sieger fest: Hearst ist der neue König des Boulevards.

Übel von gestern als Saat für heute

Dies ist eine jener Geschichten, deren Realität man sich immer wieder vor Augen führen muss, um sie richtig goutieren zu können. Hätte Paul Collins einen "echten" Kriminalroman geschrieben, würde man ihm sicherlich den Vorwurf schamloser Übertreibung machen. Doch so kann er kontern: mit einem mehr als 50-seitigen Anhang, der die herangezogenen Quellen akkurat auflistet. Spätestens jetzt versteht man, wieso Collins im Vorwort selbstbewusst behaupten kann:

 

"Sämtliche in Anführungszeichen gesetzte Aussagen sind Originalzitate, und während ich den Wust an Worten freizügig gekürzt habe, wurde nicht ein einziges Wort hinzugefügt."

 

Diese überwältigende Informationsflut aus der Vergangenheit dürfte vor allem die jüngeren Generationen der Gegenwart verblüffen, die mit dem Internet großgeworden sind und oft davon überzeugt sind, die Ersten zu sein, die für Recherchen aus dem (digitalen) Vollen schöpfen können. Doch "vergangen" ist kein Synonym für "primitiv", und auch im "analogen" Zeitalter wusste man Neuigkeiten an den Mann und die Frau zu bringen. So erschien im New York des Jahres 1897 mehr als ein Dutzend Tageszeitungen – oft in drei Ausgaben täglich.

Auch in dieser Hinsicht ist der Leser nach der Lektüre von "Mord des Jahrhunderts" schlauer geworden. Collins erzählt nicht nur eine fesselnde "True-Crime"-Story, sondern verknüpft die Darstellung eines Mordereignisses mit der Alltags-Schilderung der Ereigniszeit, was unbedingt erforderlich ist, um den Fall Guldensuppe in seiner Gesamtdimension begreiflich zu machen. Im 21. Jahrhundert ist die Presse – über die gedruckte Zeitung erweitert auf die modernen Massenmedien – als zwar inoffizielle aber einflussreiche "vierte Macht" (neben Gesetzgebung, Gesetzausübung und Rechtsprechung) etabliert. Verlorengegangen ist die Tatsache, dass dieser Ehrentitel sich ursprünglich auf eine ´seriöse´ Presse bezog, die sachlich und ausgewogen über Ereignisse berichtete und Missstände aufdeckte. Die Herrschaft des Boulevards, der auf die Wahrheit nicht angewiesen ist, gründet sich auf Männer wie William Randolph Hearst, und sie reicht keine 150 Jahre zurück.

Sensationen werden "gemacht"

Sicherlich gäbe es andere historische Dreh- und Angelpunkte, an denen Collins die Geschichte des US-Boulevard-Journalismus verankern könnte. Nüchtern betrachtet stellt der Mord an William Guldensuppe auch keinen "Mord des Jahrhunderts" dar. Collins selbst macht daraus keinen Hehl und erwähnt sowohl alternative Sensationen als auch weitere spektakuläre Kapitalverbrechen. Den Fall Guldensuppe greift er auf, weil dieser einer bereits angelaufenen Entwicklung zum exemplarischen und perfekten Katalysator wurde: Die Sensation trägt allemal den Sieg über die Wahrheit davon, wenn man sie nur ansprechend verpackt.

Was in diesem Fall mit dem Appell an die sprichwörtlichen niederen Instinkte gleichzusetzen ist. Der Mensch liebt das Grausige ebenso wie den Skandal und schwelgt darin, solange er nicht selbst betroffen ist. Gaukelt man ihm vor, ihn über solche Dinge, die ihn in der Regel nichts angehen, ´informieren´ zu wollen, kommt ein schlechtes Gewissen erst recht nicht auf. Dies gilt erst recht in der Welt des Jahres 1897 und für ein Zeitungspublikum, das noch lernen musste, Information von Klatsch, Lüge und Meinungsmache zu unterscheiden.

Als Bösewichte stehen in diesem Spiel die Journalisten von Hearst und Pulitzer nur vorgeblich fest. Collins weiß zu differenzieren: Er beschreibt Menschen, die in den Sog der eigenen Erfolge geraten. Noch gibt es 1897 kaum Grenzen, die der Presse gesetzt werden. Also darf ein Zeitungsverleger tatsächlich eine eigene Truppe ins Leben rufen, die – besser ausgestattet als die echte Polizei – Ermittlungen anstellt und keine Skrupel hat, gefundene Indizien zu unterschlagen, wenn dadurch die nächste Schlagzeile gesichert ist.

Die Mörder und die Meute

Dies ist auch deshalb möglich, weil New York Anno 1897 eine nur mühsam verwaltete Millionenstadt in einem Staatengebilde ist, dessen Regierungssystem der individuellen Freiheit größere Rechte einräumt als der Eindämmung der daraus erwachsenden Fehler. Das Glück ist mit dem Tüchtigen, und wer bei der täglichen Jagd nach dem Dollar nicht mithalten und die Ellenbogen einsetzen kann, hat Pech gehabt und trägt ausschließlich selbst die Schuld. Die Armen und Kranken ignoriert man am besten; wenn man Glück hat, gehen sie von allein zugrunde.

Solcher Brachialdarwinismus war noch wesentlich deutlicher als heute ein Wesenszug der US-Gesellschaft. Collins zeichnet das Bild einer unbarmherzigen Welt. Rassismus, Ausbeutung, Hunger, Analphabetentum: Solche alltäglichen Missstände sind der Kompost, der nicht nur Unwissenheit, Krankheit und Verbrechen düngt, sondern auch den Boulevard sprießen lässt. Collins erinnert daran, dass es ohne die Presse einen "Jahrhundertmord" Guldensuppe gar nicht gegeben hätte – der Fall stand kurz davor, ad acta gelegt zu werden, weil quasi täglich Leichen im Hudson trieben. Besonderer Ermittlungsaufwand wurde für diese Pechvögel nicht getrieben. Ohnehin waren die meisten Polizisten korrupt oder unfähig oder beides.

Man glaube außerdem nicht, dass der Mord an William Guldensuppe ein "perfektes" Verbrechen darstellt. Die Beteiligten waren Amateure und profitierten zunächst von der Gleichgültigkeit der Behörden. Ohne die Einmischung der Presse wären sowohl Augusta Nack als auch Martin Thorn unbehelligt ihrer Wege gegangen.

Die Mühlen des Gesetzes

Erst der Medienwirbel ließ die Maschinerie des Gesetzes anlaufen – stockend, knirschend, schlingernd. Collins widmet sich im zweiten Teil seines Buches verstärkt den Mächten 2 (Legislative) und vor allem 3 (Judikative). Nachdem Nack und Thorn wider Erwarten gefasst sind, wird "Der Mord des Jahrhunderts" zum "court drama", während die Presse allzeit bereit in den Hintergrund rückt.

Die Bezeichnung "Drama" ist doppeldeutig und entlarvend; sie deutet gewisse Besonderheiten des US-Rechtssystem an. Auch vor Gericht scheint die Wahrheit von sekundärer Bedeutung zu sein. Faktisch geht es darum, zwölf Geschworene von der Schuld oder der Unschuld eines Angeklagten zu überzeugen. Dies gelingt nicht nur durch Fakten, sondern wird auch durch das Auftreten von Ankläger und Verteidiger beeinflusst. Sie arbeiten mehr oder weniger manipulativ, denn auch die US-Justiz ist erfolgsorientiert: Der Sieg des Juristen ist wichtiger als der Sieg der Gerechtigkeit.

Auch hier war die Welt von 1897 unbarmherziger – oder ehrlicher. Staatsanwalt Young und vor allem Verteidiger Howe spielen vor Gericht offen Rollen. Vor allem Howe trägt dick auf; er kleidet sich in schreiend bunte Anzüge, trägt Ringe an jedem Finger und täglich eine neue, obszön teure Krawattennadel. Er schüchtert Zeugen ein, "führt" sie zu Aussagen, die er hören will, arbeitet eng mit der Presse zusammen, um für sich zu werben – dies alles mit Billigung des Gesetzes. Dass womöglich doch die Richtigen verurteilt werden, mutet wie ein glücklicher Zufall an.

Geschichte in Geschichten

Wenn man Paul Collins einen Vorwurf machen muss, dann den einer fehlenden Distanz zwischen dem Verfasser und seinem Stoff. Dahinter mag Absicht stecken: Collins kündigt im Vorwort an, dass er den O-Ton nutzen werde, um seine Figuren "sprechen" zu lassen. Deren Aussagen sind freilich dort, wo historische Zeitungen zitiert werden, zeitgenössisch eingefärbt: Zeugen wurden gern "korrigiert", um ihre Äußerungen schlagzeilenwürdiger zu gestalten. Nach dem Willen der zeitgenössischen Presse war die Welt ein Ort der Wunder und der Gefahren. Also wurde sie entsprechend dargestellt.

Die Realität sah allerdings deutlich nüchterner bzw. alltäglicher aus. Collins macht sich die Atemlosigkeit der Boulevard-Journalisten zu Eigen; aufgrund des Themas ein naheliegendes Stilmittel, das er indes ein wenig zu frei einsetzt, weil er auch die Vorurteile konserviert, die deshalb schwer oder gar nicht erkennbar sind. New York wird zum Irrenhaus, dessen geistig wenig regen Bewohner nach den Pfeifen von Hearst oder Pulitzer tanzen: Collins trägt dick auf, was er dort fortsetzt, wo er sich auf originale, nicht für eine Veröffentlichung vorgesehenen Gerichtsprotokolle stützen konnte. Also besetzt er die Geschworenenbank mit ulkig-tumben Bauern und Arbeitern und den Zuschauerraum mit neugierigen Frauen, die nach schlüpfrigen Details gieren, während Richter, Verteidiger und Staatsanwalt eine Show präsentieren, die verdächtig nach US-Fernsehen riecht.

So ist Paul Collins letztlich selbst in den Sog des Boulevards geraten. Mehr Sachlichkeit hätte seinem Buch gutgetan sowie deutlich gemacht, dass er nicht nur in kuriosen, kruden, komischen Episoden aus alter Zeit schwelgen will. Dafür hat er sich zu viel echte Recherche-Arbeit in staubigen Archiven und Bibliotheken gemacht. Wer auf solche Differenzierung keinen Wert legt, kann diese Einwände ignorieren und sich einer ebenso spannende wie irrwitzige Geschichte mit reichlichem Zeitkolorit erfreuen.

Der Mord des Jahrhunderts

Paul Collins, Irisiana

Der Mord des Jahrhunderts

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