Atem
- Der Hörverlag
- Erschienen: Januar 2012
- 10
- London: Bantam Press, 2011, Titel: 'Hanging hill', Seiten: 432, Originalsprache
- München: Der Hörverlag, 2012, Seiten: 6, Übersetzt: Anneke Kim Sarnau
Blut ist dicker als Wasser
Sally und Zoë Benedicte sind zwei Schwestern, deren Lebensweg sich im Kindesalter bereits getrennt hat. Sally war immer der Liebling ihrer Eltern, Zoë dagegen wurde in ein Internat geschickt, nachdem sie ihre Schwester absichtlich verletzte. Um später ihre Ausbildung finanzieren zu können, wurde sie Tänzerin in Bars im Rotlichtviertel von Bristol. Mittlerweile ist sie eine respektierte Polizistin, und glaubt, ihre dunkle Vergangenheit abgeschüttelt zu haben. Sally war verheiratet und glücklich, bis ihr Mann eine andere Frau fand – und nun lebt sie mit ihrer Tochter in einem baufälligen Cottage, am Rande des Existenzminimums. Sie schlägt sich als Putzfrau durchs Leben, um ihrer Tochter Millie und sich das tägliche Leben zu finanzieren. Da erschüttert der Mord an Lorne Wood, einem Mädchen in Millies Alter, die Kleinstadt Bath. Zoë ist an den schwierigen Ermittlungen beteiligt, und als Sally auf höchst unglückliche Weise auch in diesen Fall verwickelt wird, kreuzen sich nach langer Zeit die Wege der beiden Schwestern wieder. Trotzdem sie sich völlig fremd geworden sind, wird ihr Schicksal auf dramatische Weise miteinander verknüpft.
Mo Hayder hat es mit ihren bisherigen Romanen schon mehrfach geschafft, Kritiker und Publikum zu spalten. Sie hat unbestritten einen recht eigenen Stil in ihren Büchern entwickelt, zuweilen wurde sie dafür gefeiert, aber auch durchaus heftig kritisiert. Atem ist sicherlich nicht ihr bislang bester Kriminalroman, aber auf jeden Fall ein sehr persönliches Buch. Denn ihre Protagonistinnen, die Benedict-Schwestern, haben offensichtlich einige autobiografische Züge der Autorin abbekommen. Zoë hat in ihrer Jugend das Abenteuer gesucht, in Bars gearbeitet – und dann doch die Kurve bekommen. Das klingt durchaus vertraut, wenn man Hayders Biografie kennt.
Auch in ihrem neuen Roman mutet die Autorin ihren Lesern einige Abscheulichkeiten zu, zarte Gemüter sollten deshalb gleich die Finger von diesem Buch lassen. Immerhin schafft es Mo Hayder, dabei nicht zu sehr in die Geschmacklosigkeit abzugleiten, aber harter Stoff ist es allemal noch. Persönlich wird es auch deshalb, weil die Autorin neben der kriminalistischen Handlung ein gesellschaftspolitisches Thema eingebaut hat. Die oftmals prekäre Lage von geschiedenen Frauen und ihren Kindern wird mit den Lebensumständen von Sally und ihrer Tochter Millie drastisch offen gelegt. Sie können ihren gewohnten Lebensstandard nicht halten – was für beide zu Kontakten in die Unterwelt führt. Vor allem Millie kann und will nicht verstehen, warum andere Eltern ihren Kindern Klassenfahrten und ähnliche Standards problemlos ermöglichen können. Das findet sie peinlich und höchst uncool – und setzt damit ihre Mutter unter kam zu ertragenden Druck. Sally lässt sich daher trotz einiger Gewissensbisse auf Jobs ein, die über kurz oder lang zu Problemen führen müssen.
Mo Hayder sorgt mit einigen Verwicklungen und Nebenhandlungen dafür, dass der Leser aufmerksam sein muss, um den Faden nicht zu verlieren. Neben dem eigentlichen Mordfall Lorne Wood und der Mutter-Tochter-Problematik ist da eben auch noch Zoë Benedict. Wie ihre geschiedene Schwester hat sie aktuell Beziehungsprobleme, will aber gleichzeitig ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben. Den Befindlichkeiten der beiden Schwestern wird zuweilen viel Raum gewidmet, aber immerhin wird die Geschichte dadurch ebenfalls vorangetrieben. Die mehr als zwielichtigen Gestalten des Drogendealers Jake und des Pornoproduzenten David bieten weitere Facetten – bis im Finale eine bislang unbekannte skurrile Person dominant in den Focus tritt. Mehr dazu kann hier aus dramaturgischen Gründen nicht verraten werden.
Atem ist kein rasanter Thriller, liefert aber genug Spannung, um den Leser gut zu unterhalten. Mo Hayder dosiert ihre bekannten Abscheulichkeiten so moderat, dass man den Roman ohne allzu viel Grusel lesen kann. Hier und da leistet sich die Autorin einige logische Brüche, die aber verzeihlich sind, wenn man sich von dem Buch nur unterhalten lassen möchte. Das offene Ende der Geschichte wird die Leser abermals spalten – man kann sich ein positives ebenso wie ein negatives Finale selbst ausmalen.
Wie so oft bei Romanen ausländischer Autoren ist der deutsche Titel des Werkes ebenso sinnfrei wie verwirrend. Atem hat keinerlei Beziehung zum Originaltitel "Hanging Hill". Die Ortsbezeichnung macht Sinn, weil dort einige der beschriebenen Verbrechen passieren. Ob Atem nur ein Pendant zu bisherigen Büchern der Autorin sein soll (Haut), ist unklar, der Titel hat jedenfalls zur Handlung ebenso wenig Beziehung wie das Cover der deutschen Ausgabe. Die Hintergründe für diese Auswahl werden in der Marketing-Abteilung des Verlages zu finden sein – der Autorin hat man damit keinen Gefallen getan. Unabhängig davon bietet das Buch solide Unterhaltung, trotz der geschilderten Schwächen.
Mo Hayder, Der Hörverlag
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