Stephan Harbort

»Gottlob gibt es Tätertypen wie Hannibal Lecter in der Verbrechenswirklichkeit nicht.«

05.2004 Der Kriminalist und Autor Stephan Harbort über den Serienmörder Joachim Kroll und sein Buch über ihn »Ich musste sie kaputt machen«.

Krimi-Couch: Herr Harbort, in Ihrem neuen Buch »Ich musste sie kaputt machen« beschäftigen Sie sich intensiv mit dem Serienmörder Joachim Kroll, dessen Verbrechen in den 60er und 70er Jahren stattgefunden haben. Wie schwer ist Ihnen die Recherche gefallen angesichts der Parallelen zu aktuellen Fällen wie dem »Kannibalen von Rothenburg« oder Marc Dutroux?

Stephan Harbort: Es fällt naturgemäß schwer, in solchen Fällen zu ermitteln und zu recherchieren, egal ob als Kriminalist oder Autor. Gerade Kroll war jemand, der keine Perversion, keine Grausamkeit ausgelassen hat. Bei jeder Tatschilderung wurden die Leiden des Opfers und seiner Angehörigen fühlbar. Das hat mich sehr angestrengt. Gleichwohl darf sich ein Autor derlei Emotionen nicht leisten, ein Kriminalist schon gar nicht. Objektivität und Sachlichkeit müssen unbedingt gewahrt bleiben.

Krimi-Couch: Wie bringen Sie diese Selbstdisziplin auf? Hat der Autor Stephan Harbort dafür eigene Rezepte oder bringt es der Job als Kriminalist mit sich, dass man sich ein »emotionales Schutzschild« anlegt?

Stephan Harbort: Wie ich mich konkret diszipliniere, weiß ich im Grunde genommen auch nicht zu sagen, ich tue es einfach. Vermutlich habe ich diese Fähigkeit in meinem Beruf als Kriminalist, aber auch als Forscher erworben. Ich habe Dutzenden von Serienmördern gegenübergesessen, nicht wenige waren ausgesprochene Unsympathen, ungeachtet ihrer monströsen Verbrechen. Sich diesen Menschen zu nähern, fällt also auch mir prinzipiell schwer, hinzu kommt, dass gerade diese Täter häufig hochsensibel sind und auf vermeintliche Kränkungen mit eisigem Schweigen oder innerem Rückzug reagieren.

»Ich habe Dutzenden von Serienmördern
gegenübergesessen, nicht wenige waren
ausgesprochene Unsympathen.«

Wer sich in solchen Situationen nicht beherrschen kann, wem es nicht gelingt, zum Täter eine verbale und emotionale Brücke zu schlagen, der wird vieles erfahren, nur nicht die Wahrheit. Es bleibt also ein Geduldspiel.

Krimi-Couch: Zu Jürgen Kroll hatten Sie wahrscheinlich keinen persönlichen Kontakt, er starb 1999 im Gefängnis.

Stephan Harbort: Gerade ihn hätte ich gerne besucht, weil er ein Extrembeispiel dafür war, was passieren kann, wenn man sich um einem Menschen nicht kümmert, wie weit Perversionen wuchern können, wenn sie nicht behandelt werden. Ersatzweise habe ich versucht, mich seinen noch lebenden Verwandten zu nähern. Die haben aber aus verständlichen Dingen abgewunken.

Krimi-Couch: Das heißt, Sie waren größtenteils auf Akten, Zeitungsartikel etc. angewiesen?

Stephan Harbort: Anfangs schon. Aber auch das mehr als 800 Seiten starke Urteil des Landgerichts Duisburg und die Polizeiakten haben nicht ausgereicht, um die Lebensgeschichte dieses Mannes vollständig auszuleuchten. Also habe ich begonnen zu recherchieren, Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen und Arbeitsgeber Krolls telefonisch befragt oder persönlich getroffen. Das Dumme dabei: Kaum einer hatte etwas Erwähnenswertes zu erzählen. Der Mann war die sprichwörtliche graue Maus.

Krimi-Couch: Sie spielen auf das schlechte Verhältnis zu seinem Vater an, das sie auch im Buch aufgreifen. Darf man so weit gehen und behaupten, dass die Eltern eine Mitverantwortung an Krolls Entwicklung zum Serienmörder, zur »Bestie«, wie er von den Medien tituliert wurde, tragen?

Stephan Harbort: Ob die Eltern Krolls Mitverantwortung für seine erhebliche Fehlentwicklung übernehmen müssen, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen. Aber wenn jemand rechtzeitig und helfend hätte eingreifen können, dann wären es in erster Linie Vater und Mutter gewesen. Aber es war wie so häufig in solch tragischen Fällen: Das Kind versuchte seine immensen Probleme zu verheimlichen, und die Erziehungsberechtigten haben nicht genau genug hingesehen.

Krimi-Couch: Bestand dann nicht eine latente Gefahr, Joachim Kroll anders darzustellen als er wirklich war? Welche Fragen hätten Sie ihm gerne persönlich gestellt, falls es eine Möglichkeit dazu gegeben hätte?

Stephan Harbort: Ich bemühe mich bei meinen Büchern um größtmögliche Authentizität. Aber ich stoße dabei auch an Grenzen, leider sind nicht alle gewünschten Informationen recherchierbar. Und ich bin mir immer der Tatsache bewusst, dass die exakte Beschreibung und Charakterisierung eines Menschen illusorisch bleibt, bleiben muss. Auch vor Gericht wird häufig nicht die Realität ermittelt, sondern lediglich die prozessuale Wahrheit. Es bleibt eine Annäherung, mehr ist nicht möglich.

Bei Kroll wären meine Fragen in erster Linie auf die ersten 20 Jahre seines Lebens gerichtet gewesen, gerade diese Zeit war persönlichkeitsprägend, hier sind die Ursachen für sein ungeheuerliches Morden zu suchen.

Krimi-Couch: Wie die Eltern haben im Fall Kroll auch die restliche Familie, Kollegen, Nachbarn und die wenigen Freunde nicht genau hingesehen. Wie treffend ist da Camus Aussage »Jede Gesellschaft hat die Schurken, die sie verdient«?

Stephan Harbort: Dieser These möchte ich nur bedingt zustimmen. Richtig ist, dass viele gesellschaftliche, soziale und politische Versäumnisse vielfach den Nährboden für Verbrechen bilden. Aber nicht jede Straftat kann in diesem Kontext hergeleitet und verantwortet werden. Kriminalität ist häufig keine zwangsläufige Konsequenz kollektiven Versagens, sondern das Produkt individueller Fehlentwicklungen.

Krimi-Couch: Bei Kroll ist vielleicht das Überraschendste, das er über zwei Jahrzehnte morden konnte, ohne dass die Polizei auch nur eine Verbindung zwischen den Taten herstellte. Dabei beschreiben Sie Kroll als nicht besonders intelligent, als einen Menschen, der kaum in der Lage war, über den einzelnen Tag hinaus zu planen. Welche Rolle spielt die Polizei in der schrecklichen Serie des »Jahrhundert-Mörders«?

»Ob man Kroll mit heutigen
Methoden früher auf die Schliche
gekommen wäre, bleibt zweifelhaft.«

Stephan Harbort: Eine ziemlich undankbare. Man musste sprichwörtlich nach der Nadel im Heuhaufen suchen. Alles wurde versucht, aber es gab kein Ende, an dem man hätte ziehen können. Übereinstimmungen erkannte man in lediglich zwei Fällen, das war zu wenig. Überdies hatte man damals in Teilbereichen auch eine falsche Vorstellung von der Persönlichkeit und dem Verhalten bestimmter Sexualverbrecher. Aber ob man Kroll mit heutigen Methoden früher auf die Schliche gekommen wäre, bleibt zweifelhaft. Denn: Es gab in keinem der Mordfälle einen verwertbaren Hinweis, der zu ihm hätte führen können!

Krimi-Couch: Halten Sie es für möglich, dass auch in heutiger Zeit eine solche Mordserie über Jahre unaufgeklärt bleibt? Oder gibt es im Fall Kroll Ansatzpunkte, aus der die Polizei ihre Lehren ziehen konnte?

Stephan Harbort: Grundsätzlich ist es auch heute denkbar, dass bei Mordserien keine Tatzusammenhänge erkannt werden oder Morde in Serie als Tötungsdelikte verkannt werden. Denken wir nur an die sich häufenden Tötungsspiralen in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen. Dort ist es immer so: Niemand will etwas gesehen oder bemerkt haben, und die Polizei hat hier überhaupt keine Möglichkeiten, rechtzeitig initiativ zu werden. Bei meinen Recherchen bin ich auf insgesamt 19 Mordserien gestoßen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland bis heute nicht aufgeklärt werden konnten.

Aus dem Fall Kroll lassen sich auch aus kriminalistischer Sicht Lehren ziehen; zum Beispiel die, dass Serienmörder sich immer wieder als lernfähig erweisen – auch wenn sie lediglich über geringe intellektuelle Fähigkeiten verfügen. Sie verändern bewusst ihre Tatbegehungsweise, um den Eindruck zu erwecken, es handele sich um mehrere Täter. Auch erfahrene Kriminalisten haben es dann schwer, sicher nachzuweisen, dass das Gegenteil der Fall ist.

Krimi-Couch: Sie betonen, dass Kroll intellektuell sicher nicht herausragend war. Sind Serienkiller, die den Ermittlern in allen Belangen weit voraus sind, ein reines Hollywood-Phänomen (Stichwort »Hannibal Lecter«) und haben entsprechend wenig mit der Realiät zu tun? Der Serienmörder, ein Mensch wie Sie und ich?

Stephan Harbort: Die Ikone der Serienkiller-Kultur ist zweifelsohne Hannibal, der Kannibale: charismatisch, hochintelligent, gerissen, bisweilen charmant, gebildet – ein Machtmensch. Und viele kommen nicht umhin, diesen Kerl irgendwie sympathisch zu finden.

Gottlob gibt es solche Tätertypen in der Verbrechenswirklichkeit nicht. Den Kriminalisten begegnen im Regelfall die Schul- und Berufsversager, diejenigen, die sich in sozialen Dialogabläufen nicht zurechtfinden und kaum wahrgenommen werden: Nischenmenschen, Jedermänner. Häufig sind es Täter, die mit erheblichen Persönlichkeitsdefekten behaftet sind und als gescheiterte Existenzen einzustufen sind.

»Einerseits wollen sie nicht
wahrgenommen werden, andererseits
streben sie wie alle anderen Menschen auch
nach sozialer Anerkennung.«

Serienmörder sind gewiss keine »Menschen wie Du und Ich«, sie wirken auf uns nur so, weil niemand genauer hinsieht und diese Frauen und Männer bewusst keine Angriffsfläche bieten, weil sie sich vor einer häufig bereits x-mal durchlittenen Stigmatisierung fürchten. Daraus ergibt sich allerdings ein aus Sicht der Täter unauflösbarer Widerspruch: Einerseits wollen sie nicht wahrgenommen werden, andererseits streben sie wie alle anderen Menschen auch nach sozialer Anerkennung. Ein Dilemma, dass in vielen Fällen die kriminelle und perverse Entwicklung der Täter begünstigt hat.

Krimi-Couch: Trotz der von Ihnen erwähnten Unscheinbarkeit gibt es eine gewisse Faszination für dieses Thema, sogar Webseiten wie serienkiller.deserienkiller.cc oder jacktheripper.de befassen sich ausschließlich damit. Wie erklären Sie sich die das große Interesse bis hin zur Begeisterung für Serienmörder?

Stephan Harbort: Ich verstehe, dass sich viele Menschen für dieses Gewaltphäomen interessieren, schließlich passieren dort ungeheuerliche Dinge, die kaum jemand schlüssig erklären kann. Gewalt ist immer ein ambivalentes Konstrukt: abstoßend und anziehend. Serientäter – egal, ob real oder fitkiv – fungieren auch als Türöffner, sie führen uns in Regionen, die tabu sind. Und gerade dieser Aspekt ist so verlockend! Nicht wenige werden fragen: Wie ist so ein Mensch? Was geht in ihm vor? Warum macht der das? Und nicht zuletzt: Wieviel von dem steckt auch in mir? Allerdings sollten wir uns davor hüten, uns von dieser Art Verbrechertypus einfangen oder gar faszinieren zu lassen!

Krimi-Couch: Herr Harbort, im Nachwort zu »Ich musste sie kaputt machen« plädieren Sie für einen menschenwürdigen Umgang mit den Tätern, ganz im Gegensatz zu manchen Politikern, die schlicht »wegsperren!« fordern. Sie enden mit »Wenn wir nicht selbst zu Tätern werden wollen, müssen wir uns der Diskussion stellen. Also: Wohin mit ihnen?« Haben Sie eine Antwort auf Ihre Frage?

Stephan Harbort: Es wäre schön, wenn ich eine abschließende Antwort parat hätte – habe ich aber nicht. Für mich ist aber evident: Bevor wir den Umgang mit Gewaltverbrechern erörtern, sollten wir zunächst eine solide Grundlage schaffen, auf der wir dann auch gerne kontrovers, vor allem aber sachgerecht diskutieren können. Aber die hoffnungslosen Fälle der deutschen Justiz werden stattdessen totgeschwiegen, polemisiert oder von Kriminalpolitikern für höchst durchschaubare Wahlkampfmanöver missbraucht.

»Verbrecher haben keine Lobby.
Hinter jedem «Monster»
steckt aber auch ein Mensch.«

In Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Prima. Auch das Bundesverfassungsgericht fordert in mehreren Beschlüssen, dass »jeder Verbrecher, egal, für welche Verbrechen er verurteilt worden ist, nochmals in Freiheit kommen muss«. Recht so. Fakt aber ist auch, dass nicht therapierbare Täter nicht selten so lange weggesperrt werden, bis sie sich aus Verzweiflung das Leben nehmen oder auf natürlichem Wege versterben. Das ist menschenunwürdig! Wenn wir uns hier nicht an die Grundelemente unserer Verfassung halten und danach handeln, werden wir es andernorts auch nicht tun.

Doch bin ich auch Realist genug, um zu erkennen, dass ich mit meiner Warnung kaum durchdringen werde. Denn: Verbrecher haben keine Lobby. Aber auch wenn es schwerfällt, sollte uns folgende Erkenntniss begleiten: Hinter jedem »Monster« steckt auch ein Mensch.

Krimi-Couch: Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Lars Schafft im Mai 2004.

Dr. Drewnioks
mörderische Schattenseiten

Krimi-Couch Redakteur Dr. Michael Drewniok öffnet sein privates Bücherarchiv, das mittlerweile 11.000 Bände umfasst. Kommen Sie mit auf eine spannende und amüsante kleine Zeitreise, die mit viel nostalgischem Charme, skurrilen und amüsanten Anekdoten aufwartet. Willkommen bei „Dr. Drewnioks mörderische Schattenseiten“.

mehr erfahren